War der Aufstand von 1968 "karnevaleske Rebellion"? | General de Gaulle glaubte an eine Verschwörung der CIA. | Wien/Paris. Am 3. Mai 1968, also vor genau 40 Jahren, wurde Paris von Unruhen erschüttert, die in ihrem weiteren Verlauf die Nation an den Rand des Kollapses brachten. An jenem Tag besetzte ein Haufen aufgebrachter Studenten die Universität Sorbonne, um gegen die Schließung der Philosophischen Fakultät der Hochschule von Nanterre zu protestieren. Der Rektor der Sorbonne rief umgehend die Polizei, die die traditionsreiche Hochschule unter Einsatz von Tränengas räumte. Hunderte Studierende wurden verhaftet und abtransportiert.
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Durch das unerwartet brutale Eingreifen der Obrigkeit wurde ein Stein in Rollen gebracht, der von der französischen Regierung vorläufig nicht mehr zu stoppen war. In den folgenden Tagen wuchsen die Studentenproteste sukzessive an, während die Staatsmacht bemüht war, die Unruhen gewaltsam niederzuschlagen.
Die Studentenrevolte erreichte am 6. Mai einen vorläufigen Höhepunkt, als im Quartier Latin Studenten und Polizisten aneinander gerieten. Die Behörden hatten für diesen Tag alle Demonstrationen verboten, was aber keinen Effekt hatte. Nach einem Protestmarsch durch Paris wurden die Demonstranten in unmittelbarer Nähe der Sorbonne von Einheiten der Sonderpolizei CRS attackiert. Nach einer Schrecksekunde begannen die Studenten, die Beamten mit Pflastersteinen zu bewerfen. Die überraschten Ordnungshüter mussten schließlich zum Rückzug blasen.
Im Verlauf der folgenden Woche kam es zu weiteren Demonstrationen, im Stadtzentrum von Paris wurden nach und nach 60 Barrikaden errichtet. Die Polizei, vom gewaltsamen Vorgehen der Protestierenden zunächst irritiert, dann zunehmend frustriert, reagierte immer brutaler, was zur Folge hatte, dass immer mehr empörte Menschen auf die Straße gingen.
7 Millionen streiken
Eine völlig neue Qualität erreichte der Pariser Aufstand, als am 13. Mai alle großen Gewerkschaften zum Generalstreik aufriefen. Eine Ausnahme bildeten die mächtigen kommunistischen Arbeitnehmerverbände - die orthodoxen französischen Kommunisten verurteilten den Studentenaufstand als "bourgeoise Mätzchen".
Die Streiks griffen von Paris auf andere Städte über, immer mehr Unternehmen wurden lahmgelegt. Am 20 Mai befanden sich sieben Millionen Franzosen im Streik. Die studentischen Wünsche - Reformen im Bildungswesen bis hin zu einer Neugestaltung der gesamten Gesellschaft - waren den Arbeitern relativ egal. Ihnen ging es um handfestere Anliegen wie Lohnerhöhungen und mehr bezahlte Freizeit. Es handelte sich bei den Streiks in den Fabriken nicht um eine Solidaritätsbekundung, vielmehr wurden die Unruhen von den Gewerkschaften als günstige Gelegenheit begriffen, gerade jetzt mit lang bestehenden Forderungen auf die Straße zu gehen.
Während Frankreich nach und nach ins Chaos schlitterte, war Präsident Charles de Gaulle, Übervater der Nation und Gründer der Fünften Republik, intensiv darum bemüht, die Vorgänge um sich herum zu begreifen. Während er mit den Streiks und den gewerkschaftlichen Forderungen gut umgehen konnte, war es dem General nicht möglich, die Bedeutung des Aufruhrs unter den Studenten - der unorganisiert und ohne System erschien - zu erfassen.
Zunächst war De Gaulle der Ansicht, dass die jungen Leute den Tumult als Mittel gewählt hätten, um die anstehenden Prüfungen - von denen sie bereits im Vorhinein wüssten, dass sie sie nicht bestehen würden - zu sabotieren. Er bezeichnete deshalb die Rädelsführern als "zweitklassige Studenten". Bestärkt wurde er in seiner Ansicht durch den Umstand, dass eine der studentischen Forderungen in der Abschaffung der "Aussiebungsprüfungen" bestand. Im Verlauf der Ereignisse war der alternde Politiker immer mehr geneigt, jenen Stimmen zu glauben, die von einer "gesteuerten Aktion der CIA" sprachen.
Der damalige Studentenführer und nunmehrige Fraktionschef der Grünen im EU-Parlament, Daniel Cohn-Bendit, beharrt heute ebenso wie andere Protagonisten des Pariser Mai darauf, dass die Ereignisse völlig spontan und ohne Vorbereitung erfolgt wären. Zeitzeugen berichten im Nachhinein jedenfalls von einer "heiteren Atmosphäre der Anarchie", die in den Maitagen in Paris geherrscht hätte. Die Menschen seien, angeregt über Leo Trotzki und Bakunin debattierend, zwischen den Barrikaden gestanden und hätten sich amüsiert.
Gerald Stieg, Österreicher und seit vielen Jahren Germanistik-Professor an der Pariser Sorbonne, bezeichnet sich selbst als einen "späten Zeugen" der Pariser Maiereignisse. In dem Vortrag "Revolution und/oder Spiel? Das Jahr 1968 an der Sorbonne", den Stieg kürzlich an der Universität Wien gehalten hat, charakterisierte er den Pariser Mai als "antiautoritäre Festveranstaltung". Das, so Stieg, zeige sich schon an den zahlreichen Parolen, die damals an den Universitäten kursierten, die mittels Flugzetteln verteilt und auf Mauern gemalt wurden.
So proklamierten einige Schüler den Anbeginn einer "ewigen Pause", Parolen wie "Verbieten ist verboten", "in jedem von uns steckt ein Polizist, man muss ihn umbringen", "unter dem Pflasterstein ist der Strand", "seid Realisten, verlangt das Unmögliche", "vergewaltigt eure Alma mater", "je mehr ich vögle, desto mehr habe ich Lust, Revolution zu machen", "verhandelt nicht mit den Unternehmern, schafft sie ab", "ich bin Marxist der Groucho-Fraktion", machten in Paris 1968 die Runde. Es wurde die Abschaffung der Orthographie ebenso verlangt wie der Sturz der "Herrschaftsorganisation der Grammatik".
Für Stieg sind das jedenfalls deutliche Indizien dafür, dass der studentische Aufruhr starke Züge einer "karnevalesken Rebellion" gehabt hat. Ein Leitartikel, erschienen am 15. März 1968 in "Le Monde" und mittlerweile zu einiger Berühmtheit gelangt, scheint die These vom Triumph der rebellierenden Heiterkeit zu bestätigen. "Frankreich langweilt sich", beschrieb damals der Journalist Pierre Viasson-Ponté die Grundstimmung in der französischen Gesellschaft, die zugleich Ausgangslage der folgenden Ereignisse war.
Tristesse in Nanterre
Keineswegs Zufall war, dass die Unruhen ihren Ausgang an der Universität von Nanterre genommen haben. Dort waren die Studenten nicht nur mit dem üblichen veralteten Bildungssystem konfrontiert, hier handelte es sich zusätzlich um einen ausnehmend tristen Betonklotz an der Pariser Peripherie, in dem sich lustlos 11.000 Studenten drängten. Metro-Anbindung, Cafes oder andere Treffpunkte gab es nicht. Die Studenten empfanden die strikte Geschlechtertrennung in den Wohnheimen als ungeheuerliche Schikane.
Als am 8. Jänner 1968 der Jugend- und Sportminister Francois Mistoffe nach Nanterre kam, um ein neues Schwimmbecken einzuweihen und an den sportlichen Ehrgeiz der Studenten zu appellieren, wurde er vom bereits erwähnten Daniel Cohn-Bendit angesprochen. Dieser konfrontierte den Minister mit dem Umstand, dass in dem neuen "Weißbuch Jugend" das Thema Sexualität mit keinem Wort erwähnt sei. Der Minister meinte daraufhin, es sei "kein Wunder, dass Sie bei Ihrem Gesicht derartige Probleme haben". Cohn-Bendit solle es mit einem Bad versuchen, so der ministerliche Ratschlag, den Cohn-Bendit mit einem schlichten "Diese Antwort hätte Hitlers Jugendminister alle Ehre gemacht" parierte. Eine Replik, die den aufmüpfigen Studenten über Nacht zu einer bekannten Persönlichkeit machte. Dieser "kurze Dialog zwischen Student und Regierung", schreibt der US-Autor Mark Kurlansky in seinem Buch "1968", "hatte ein Strickmuster, das sich auf ständig eskalierendem Niveau wiederholte, bis ganz Frankreich zum Stillstand kam."
Tatsächlich verschärfte sich nach dem 8. Jänner der Gegensatz zwischen Obrigkeit und Studenten sukzessive. Als die Hochschule von Nanterre am 2. Mai geschlossen wurde, verlagerten sich die Proteste nach Paris. Hätte die Polizei am 3. Mai auf die Proteste an der Sorbonne nicht mit Gewalt reagiert, wäre der Funke niemals in die Hauptstadt übergesprungen und es hätte den landesweiten Flächenbrand nicht gegeben, sind sich heute die Studentenführer von damals sicher.
Auf politischer Ebene haben die Maiunruhen kaum Änderungen im Sinne der Rebellierenden gebracht, im Gegenteil: Nachdem den Arbeitern Lohnerhöhungen zugesichert worden waren und die Studenten die Straßen geräumt hatten, feierten die Gaullisten bei den Wahlen im Juni 1968 einen einzigartigen Wahlerfolg - sie erzielten die absolute Mehrheit.
Der Soziologe Pierre Bourdieu äußerte sich vor seinem Tod 2002 dennoch verhalten optimistisch zu den Folgen von 1968: "Die Bewegung war symbolisch sehr wichtig, sie hat (.. .) Denkweisen und Wahrnehmungen etwa von Hierarchien, Autorität, dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern verändert - aber in der Wirklichkeit, und besonders im Schulsystem, hat sie nicht viel erreicht."