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Helene Karmasin

Von Ingeborg Waldinger

Reflexionen

Die Motivforscherin Helene Karmasin über Produkte als Botschaften, Marken der Zukunft, den Heimwerker als Weltenschöpfer und die geringe Risikofreudigkeit der Österreicher.


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Wiener Zeitung: Frau Karmasin, als Motivforscherin leuchten Sie die Psyche des Konsumenten aus. Lässt sich in der Verbraucher-DNA unserer Gesellschaft ein dominanter Code ausmachen?Helene Karmasin: Ja, man kann einen Hauptstrang von Wünschen und Bedürfnissen feststellen, der sich aus unserer Sicht in Zukunft noch verstärken wird. Ein zentraler Wert unserer Gesellschaft ist die Individualität. Doch es gibt zu jeder Entwicklung meist auch einen gegenteiligen Trend. Wir beschäftigen uns nicht nur mit der Psyche der Menschen, also mit dem, was sich die Leute ganz subjektiv wünschen. In meinem Buch "Produkte als Botschaften" vertrete ich die Hauptthese, dass wir auf der Ebene der Güterproduktion auch eine symbolische Produktion herstellen. Daher müssen wir auch betrachten, welche Konzeptionen des Wünschenswerten in unserer Gesellschaft relevant sind. Produkte übersetzen diese Konzeptionen. Jede Gesellschaft produziert die Werte, die sie braucht, um zu funktionieren. Diese Werte kehren auf subjektiver Ebene als Wünsche wieder. Etwa in unserem fixen Glauben, dass Glück, Individualität und ein gutes Leben durch Produkte, Güter oder Dienstleistungen bewerkstelligt werden können. Was ja nicht selbstverständlich ist.

Bekennt der heutige Konsument seinen Hedonismus offen?

Eigentlich schon. Es gibt eine Verpflichtung zum Glück: Be happy! - Und das hat man zu leisten.

Zeichnet sich auch ein Trend zu ethischem Konsum ab?

Selbstverständlich. Es ist sogar möglich, dass sich Hedonismus und ethische Überlegungen verbinden. Das erkennt man etwa an der Entwicklung von Bioprodukten. Man hat gesagt, die Industrie vergifte alle, man wolle zurück zu kleinen Einheiten, persönlichen Produzenten. "Bio" war am Anfang eine rein moralische Konzeption, eine Protestbewegung, vorangetrieben von den "Egalitären", einer Subgruppe, die stets eine "Wall of virtue" um sich baut: Wir sind die Tugendhaften - und die da draußen sind die Sünder. Sie haben sich entsprechend gekleidet und fielen durch Askese auf. Zum Prinzip "Genuss" konnten sie sich nicht bekennen, ganz im Gegenteil. Eine schöne Frau, eine schöne Karotte - das war unzulässig. Ihr Code des Einfachen, Hässlichen war gegen den industriellen Glamour gerichtet.

Wofür steht "Bio" heute?

Heute hat sich "Bio" mit vielem verbunden, auch mit dem Genuss-Trend. Es gibt die Bio-Trüffel - und die entsprechende Abnehmergruppe dafür: die Soziologie nennt sie "Bobos" ( Bourgeoise Bohemiens, Anm. ). Sie sind Aufsteiger, leistungsorientiert, gut verdienend und sehr marktorientiert. Aber sie wollen das moralisch Richtige tun, wollen, dass es auf der Welt gerecht zugeht. Für diese Gruppe kann man ganz spezielle Güter produzieren: die ultimative Espressomaschine, die nach Erdstrahlen ausgerichtete Dusche. Zum Abendessen gibt es nicht einfach etwas aus dem Supermarkt, sondern Käse von glücklichen Schafen. Der Produzent, den man persönlich kennt, zu dem man einkaufen fährt, der nur sehr kleine Kontingente herstellt. Das sind die Geschichten, die die Bobos erfreuen.

In Ihrem Buch "Produkte als Botschaften" legen sie die mythenbildende Struktur von Produkt- und Werbekonzepten dar. Fördert unser effizienzorientiertes System das Bedürfnis nach Geschichten, die einen mental heimholen?

Ja, ganz sicher. Schon Max Weber hat von der Entzauberung der Welt gesprochen. Eine leistungsorientierte, industrialisierte Gesellschaft muss zunächst die Welt entzaubern, verwissenschaftlichen und auf eine Effizienz-Grundlage stellen. Aber die Menschen haben ein Bedürfnis nach Sinngebung, nach Dingen, die uns das, was wir haben, natürlich, richtig und sinnvoll erscheinen lassen. Da kommen nun die Mythen ins Spiel. Sie halten die Denkkategorien unserer Kultur stabil. All die Ideen vom schönen Leben werden hundertfach erzählt und in Produkte übersetzt.

Jedes Konzept der Sinnstiftung transportiert eine Weltsicht. Lassen sich prinzipiell alle Produkte mit Ideologie aufladen?

Jeder Produktbereich hat eine geheime Logik. Selbst Heimwerkergeräte sind voll von ideologischen Implikationen. All die irrsinnigen Bohrmaschinen etwa haben - in erster Linie - Männer zu Hause. Sie brauchen sie oft nur, um im Jahr vielleicht zwanzig Löcher zu bohren. Aber sie lieben sie: Its a mans world! Der Mann geht in den Heimwerkerkeller und erschafft mit seiner Bohrmaschine eine schöne neue Welt. Mit Schöpfungskraft! Da ist eine unglaubliche Ideologie am Werke. Im Kern der alten Heimwerkerphilosophie liegen strikte Konzepte von männlich/weiblich, privat/öffentlich: Das Haus ist mein Raum, in dem ich - anders als draußen - volle Autonomie habe. Hier kann ich physisch gestalten - auch das bleibt uns die Gesellschaft schuldig.

Heimwerken wirkt dieser Entdinglichung des Sozialen entgegen. Da spürt man noch das Holz, den Dübel, den Leim. Es gibt keine Produktgattung, die nicht von kulturellen Prämissen Gebrauch macht.

Sind Marken nur dank mächtiger Kommunikationsstrategien erfolgreich, oder bieten sie gegenüber No-Names tatsächlich einen Mehrwert?

Je nachdem, wie man Mehrwert definiert: Aus der Perspektive der alten Ökonomie, aus Sicht des Homo oeconomicus, der stets Nutzen und Kosten abwägt, sind No-Names oft gar nicht um so viel schlechter. Dennoch bringt es mehr, eine Marke zu verwenden. Mit ihr kann man sich differenzieren. Sie minimiert das Risiko und vermittelt ein Wohlgefühl. Hinter großen Marken steht eine Geschichte. Es ist natürlich eine Leistung, über einen längeren Zeitraum hinweg erfolgreich zu sein. Da denkt man unwillkürlich: Schön, dass es in dieser Welt, in der sich alles aufzulösen scheint, noch so etwas wie Tradition und Beständigkeit gibt. Zudem bieten Marken in vielen Fällen auch die besseren Produkt an, müssen das auch, da sie unter ständiger Beobachtung stehen.

Wie weit lässt sich eine Marke, die für Konstanz steht, verändern? Gibt es eine Grenze, ab welcher der Konsument sagt: Das ist nicht mehr meine Marke?

Das ist die Kunst der Markenführung. Unser Hauptgeschäft besteht darin, die Sprache der Marke, ihren Code auszuloten. Der muss strukturell gleich gehalten werden, aber doch so offen sein, dass man die Marke geringfügig weiterentwickeln kann. Diese Flexibilität macht starke Marken aus. Sie müssen sich in Hinkunft auch im Bereich der Internet-Ökonomie behaupten, auf Interaktion setzen, die Sprache der neuen Medien sprechen. Nicht jede Verbrauchergruppe praktiziert ethischen Konsum, aber die Menschen werden empfindlicher gegenüber Fehlverhalten, sanktionieren es auch. Keine wie immer geartete Kommunikationskampagne kann über eine schlechte Produktrealität hinwegtäuschen. Das musste selbst eine exklusive deutsche Automarke erfahren . . .

Werden No-Name-Produkte indirekt zur Marke, indem sie sich bewusst außerhalb des Leitmarkenclubs stellen?

Natürlich. Ein deutscher Lebensmitteldiscounter verwirklicht alle Prinzipien der Markenführung: starker Markenkern, richtige Botschaft, richtiger Code.

Und das Label "Fair Trade"? Vermittelt es das Gefühl, man kaufe ein autorisiertes Produkt?

Ja, man glaubt, dass Instanzen alles überwachen und dafür sorgen, dass alles mit richtigen Dingen zugeht. Doch ich meine, "Fair Trade" hat noch nicht den richtigen Markencode, die ideale Semiotik. Die spezifische Position ist zeichenhaft relativ rudimentär übersetzt. In der Kommunikation ist die Industrie jenen Instanzen, die sich mit ethisch guten Programmen vorstellen, noch um Meilen voraus.

Sie haben den "Code des cleveren Konsumenten" erforscht. Der funktioniert über den Preis, und packt den Konsumenten bei der Eitelkeit. Ist das ein raffiniertes Trostpflaster, ein Beitrag zur Stärkung des Selbstbewusstseins oder doch wieder eine Mythenbildung?

Alles zusammen! Es handelt sich zunächst um eine Mythenbildung, die das Prinzip des Sparens umkehrt. Früher musste man sparen, weil man kein Geld hatte. Auch heute gibt es eine wachsende Gruppe von Leuten mit kleinem Budget. Aber denen nur zu sagen: "Für euch haben wir die Abfallprodukte", wäre für unser sozioökonomisches System nicht gut. Sagt man hingegen: "Ihr seid die Allerschlauesten", fördert das den sozialen Frieden. Die Menschen wollen autonom sein und lieben Versicherungen, wie "Ihr seid ja nicht blöd!" oder "Geiz ist geil!". Diese Botschaften signalisieren: Ich muss nicht sparen, sondern ich habe das ultimative Kauferlebnis. Das Konzept stößt natürlich an Grenzen, trennt die sozialen Gruppen dann auch wieder von einander. Dass etwa speziell Reiche so vorgingen, stimmt gar nicht. Die fliegen nicht per Charter um 19,90 an irgendeinen Strand mit hässlichen Zimmern und grässlichem Essen. Punktuell aber bezieht heute jeder diese Billigangebote mit ein, wenn kein Unterschied in der Leistung erkennbar ist.

Der Konsument will durch seine Produktwahl Zugehörigkeit oder Abgrenzung demonstrieren. Wie sehr definieren wir unsere Identität mit Hilfe von Gütern?

In beträchtlichem Maß. Im Grunde will ich mit dem, was ich kaufe, ausdrücken, wer ich bin - und wer ich nicht bin. Der negative Ausdruckswert ist besonders interessant. Kann man durch ein Produkt etwa die Botschaft ausdrücken "Nimm mich ja nicht als X wahr!", hat das nicht nur mit Prestige zu tun. "Nimm mich ja nicht als Senior wahr!" ist heute ein Hauptmotiv in den Seniorenmärkten.

Ist der aktuelle Konsum- und Lifestyle-Mix auch ein Zeichen von Orientierungslosigkeit?

Das Konzept "Orientierungslosigkeit" setzt ja voraus, das es so etwas wie strikte Orientierung überhaupt einmal gab. Das traf auf das 19. Jahrhundert zu. Ich würde das Gegenteil von Orientierung nicht Orientierungslosigkeit nennen. Die Menschen fühlen sich auf manchen Märkten durch die Vielzahl von Optionen überfordert, aber als Lebensgefühl stimmt es nicht. Sie basteln ihr eigenes Leben, und diese "Lebensbricolage" vermittelt ihnen ein Erfolgsgefühl.

Es gehört zu unseren Konzepten, in jeder Situation ein anderer zu sein. Die Vorstellung von einem mit großen Mühen erworbenen, bis zum Tod verteidigten Selbst gibt es nicht mehr. In uns existieren mehrere "Selbste". Einmal bin ich Kind, dann wieder ein verfluchter Kerl. Das ist ein uraltes Spiel. In Stammeskulturen hat jeder mindestens drei Ich-Komponenten: das Ich seiner Ahnen, sein gegenwärtiges und jenes der künftigen Generationen. Die wollen alle zum Ausdruck gebracht werden: im Ritual, in spezifischen Arten des Sprechens und in Gütern.

Wenn Sie Zwischenbilanz ziehen: Worin liegen heute die größten Herausforderungen für den Marktforscher?

Zum einen werden die Erreichbarkeit der Menschen und deren Willigkeit, mitzumachen, geringer. Zum anderen muss das, was die Leute explizit erzählen, immer mehr hinterfragt werden. Am Anfang der Marktforschung hat man ihre Darstellungen völlig ernst genommen. In der quantitativen Marktforschung ist das heute noch so. Doch man muss die Auskünfte als Text interpretieren. Die richtige Deutung ist eine starke Herausforderung, denn die Märkte sind sehr differenziert, und viele Produkte funktionieren nur aufgrund symbolischer Orientierungen.

Geht Ihrer Ansicht nach die Epoche des "Steigerungsspiels" - alles muss immer noch besser, noch effizienter werden - allmählich zu Ende?

Die von dem Soziologen Gerhard Schulze vertretene Theorie, die perfekteste aller Welten sei schon erreicht, stimmt nur für manche Bereiche. Dort gibt es eine Verlagerung von der reinen Funktionalität auf nach innen geleitete, unerschöpfliche Ebenen des Erlebnisses und Glücks. Die Glücksskala ist nach oben hin offen. Gleichzeitig gibt es noch haufenweise Produkte auf dem Markt, die gar nicht richtig funktionieren. Doch wir haben eine immanente kulturelle Dynamik, glauben an die Innovation, müssen daran glauben. Wie sonst könnten unentwegt Scharen von Gütern unsere Märkte wieder verlassen, und neue verkauft werden?

Nach dieser immanenten Logik funktioniert jene Gruppe von Konsumenten, die das Alte wegwirft, weil es eben alt ist. Sie hinterfragt nicht, ob das Neue wirklich eine Innovation bringt. Wenn ein Handy auf den Markt kommt, mit dem man im Prinzip auch Nudeln kochen kann, wird sich sicher eine Gruppe finden, die sagt: ich lege mir das zu, denn irgendwann will ich damit vielleicht Nudeln kochen.

Sie haben die kulturellen Unterschiede in der Risikowahrnehmung untersucht. Der Österreicher gilt nicht als besonders risikofreudig. Zeigt sich das auch in seinem Konsumstil?

Nicht so sehr im Konsumstil, aber im finanziellen Verhalten. Da gibt es das unveränderte Bedürfnis nach Sicherheit: Wenn alle Stricke reißen, habe ich ja noch den Bausparvertrag, mein Sparbuch, das in Österreich stets mehr war als eine Anlageform: Es ist die Versicherung des Bürgers. Der spart auch noch das Geld für sein Begräbnis zusammen, damit alles geregelt ist. Daneben gibt es den Wunsch nach Besitz. Der Haupttraum der Österreicher ist das Eigenheim. Dieser Traum wird in großem Umfang befriedigt. Flexibilität wird nur von einer winzigen Gruppe wirklich gewollt. Man fügt sich, wenn es sein muss, hält aber am Häuschen im Grünen fest: Da fahr ich hin, da spiel ich Bauer und das einfache Leben.

Sehen Sie einen grundlegenden kulturellen Wandel auf uns zukommen?

Nein, im Gegenteil. Ich würde annehmen, dass sich die Menschen gerade durch die Bedrohungen in der Außenwelt, durch fremde kulturelle Entwürfe sehr viel stärker ihres eigenen Konzepts von einem schönen, geglückten Leben bewusst werden. Über dieses Konzept kann natürlich diskutiert werden, es kann kritisiert werden, denn es hat auch Schattenseiten. Im Kern aber enthält es wunderbare Werte: Individualität, Autonomie. Ich würde mir wünschen, dass wir noch viel mehr zu diesen Werten stehen, sie guten Gewissens in Zeichen übersetzen. Natürlich kann man fragen, wozu wir 75 Sorten Deos brauchen? Nur, wenn man sich die Alternative überlegt, sind mir 75 Sorten Deos allemal lieber als die Zwangsverpflichtung auf ein einziges.

Zur Person

Helene Karmasin hat ein Studium der Psychologie und Semiotik absolviert. Sie leitet das schon 1967 gegründete Institut Karmasin Motivforschung, Wien. Das Institut arbeitet im Bereich der qualitativen Marktforschung in Österreich, Deutschland und in der Schweiz. Zu den Kunden zählen internationale Markenartikelunternehmen, Dienstleistungsunternehmen und der Handel. Die Arbeitsschwerpunkte sind: Psychologische Marktforschung, Beratung auf dem Gebiet von Unternehmenskulturen, strategische Markenführung, semiotische Analysen. Die wissenschaftlichen Schwerpunkte setzt das Institut in den Bereichen semiotische und kulturanthropologische Analysen von Alltags- und Produktkulturen und medienwissenschaftliche Analysen. Helene Karmasin ist Lehrbeauftragte an der Wirtschaftsuniversität Wien, der Universität Wien und der Wiener Hochschule für Angewandte Kunst. Eine aktualisierte und erweitere Auflage ihres Standardwerkes "Produkte als Botschaften" (Ueberreuter, Frankfurt/Wien 2004) erscheint im Frühjahr 2007.