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Helfen in Zeiten der Krise

Von Ulrich H. J. Körtner

Gastkommentare
Ulrich H. J. Körtner ist Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
© Hans Hochstöger

Es ist zynisch und inhuman, hilfsbedürftige Menschen gegeneinander ausspielen zu wollen.


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Helfen in Zeit der Not ist eine humanitäre Pflicht und ein Gebot der Nächstenliebe. Es ist ein Zeichnen der Hoffnung in all den gegenwärtigen Krisen, dass auch jetzt viele Menschen bereit sind zu helfen. Zum Beispiel durch Spenden für die Opfer des Erdbebens in der östlichen Türkei und im Norden Syrien, das bis Ende Februar bereits mehr als 50.000 Tote gefordert hat. Eltern haben ihre Kinder verloren, Kinder ihre Eltern, ganze Familien wurden ausgelöscht. Millionen von Menschen in der Region sind obdachlos geworden und stehen vor dem Nichts.

Aus der täglichen Berichterstattung ist die Erdbebenkatastrophe schon wieder verschwunden. Die öffentliche Aufmerksamkeit richtet sich rasch auf neue Themen. Nach der ersten Welle der Akuthilfe werden die Menschen in der Türkei und Nordsyrien jedoch noch lange auf Hilfe angewiesen sein. Der Wiederaufbau ist ein Jahrhundertprojekt.

Auch in anderen Regionen der Welt herrscht große Not. Die Corona-Pandemie hat ebenfalls viele Opfer gefordert und Notlagen hervorgerufen, nicht nur medizinische, sondern auch wirtschaftliche, psychische und soziale. Zynisch und inhuman ist es aber, hilfsbedürftige Menschen gegeneinander ausspielen zu wollen, wie es Niederösterreichs frischgebackener Landeshauptmannstellvertreter Udo Landbauer von der FPÖ getan hat. Er hat die 3 Millionen Euro, die die Regierung aus dem Auslandskatastrophenfonds bereitgestellt hat, als "Millionengeschenk ans Ausland" kritisiert und von einer "Unverfrorenheit" gesprochen.

Die Maßstäbe geraten völlig aus dem Lot

Damals meinte noch Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner von der ÖVP, ein solcher Sager richte sich selbst. Das hat sie aber nicht daran gehindert, eine Koalition mit der FPÖ einzugehen und einen 30 Millionen Euro schweren "Wiedergutmachungsfonds" für vermeintliche Opfer der staatlichen Corona-Politik anzukündigen. Aus diesem Topf sollen nicht nur vom VfGH aufgehobene Corona-Strafen zurückgezahlt werden. Auch Eltern, die ihre Kinder während der Pandemie aus der Schule genommen und im Homeschooling selbst unterrichten haben, sollen finanziell unterstützt werden. Neben der medizinischen Betreuung von Menschen mit Impfbeeinträchtigungen sollen auch die Kosten für die Behandlung psychischer Probleme infolge der Pandemiepolitik geben.

Zu prüfen sind nicht nur die rechtlichen Grundlagen eines solchen Fonds. Zu hinterfragen sind auch die vorgesehenen Einzelmaßnahmen, die letztlich auf eine nachträgliche Abkehr von der gesamten Corona-Politik hinauslaufen, die von der ÖVP entscheidend mitzuverantworten ist. Wenn zusätzlich sämtliche Werbemaßnahmen für die Corona-Impfung eingestellt werden, ist das nicht nur medizinisch grob fahrlässig, sondern auch ein Schlag ins Gesicht all jener Organisationen und Einzelpersonen, die sich für die Impfaktionen eingesetzt haben. Dabei war doch die rasche Entwicklung von Impfstoffen in der Corona-Pandemie der "Game Changer" schlechthin.

Dass auch die Opfer von Herbert Kickls Bewerbung des Antiwurmmittels Ivermectin als Medikament gegen Corona entschädigt werden sollen, steht übrigens nicht im niederösterreichischen Regierungsübereinkommen. Zur Erinnerung: Nachdem Menschen die für Pferde empfohlene Dosis eingenommen hatten, kam es zu Vergiftungen.

3 Millionen Euro an Bundesmitteln für die Erdbebenopfer gegen 30 Millionen Euro für einen fragwürdigen Wiedergutmachungsfonds: Hier geraten die Maßstäbe völlig aus dem Lot. Nun sollten Hilfsmittel für den Wiederaufbau in der Türkei und in Nordsyrien nicht leichtfertig vergeben werden. Nachdem sich eine internationale Geberkonferenz in Brüssel sechs Wochen nach dem Erdbeben auf mehr als 7 Milliarden Euro an Hilfen verständigt hat, warnen Fachleute zur Vorsicht. Bei der Vergabe der Mittel ist darauf zu achten, dass die Gelder nicht in den Taschen von Bashar al-Assads Regime landen oder in den osttürkischen Kurdengebieten für die politischen Zwecke Erdogans missbraucht werden.

Wer jedoch, wie geschehen, in einer humanitären Krise wie der Erdbebenkatstrophe gleich im ersten Moment die Parole "Österreich(er) zuerst" ausgibt, verstößt gegen jede Menschlichkeit und auch gegen das biblische Gebot der Nächstenliebe. Es handelt sich bei der Katastrophenhilfe nicht um Geschenke oder gar um Geldverschwendung, sondern um dringende Hilfe für Menschen, denen es am Nötigsten fehlt.

Trotz Corona-Pandemie und Folgen des Ukraine-Krieges gehört Österreich immer noch zu den wohlhabenden Ländern dieser Erde. Wir stehen nicht vor der Wahl, entweder nur Menschen im eigenen Land oder nur Menschen in anderen Gegenden dieser Erde helfen zu können. Wir können und sollen das eine tun und das andere nicht lassen.

Die Pflicht zur Nächstenliebe und zur Fernstenliebe

Es gibt nicht nur die Pflicht zur Nächstenliebe, sondern auch zur Fernstenliebe. Sie gilt nicht nur für jeden Einzelnen von uns. Auch Staaten haben internationale Verpflichtungen. In der einen Welt, in der wir Menschen nur miteinander leben und überleben können, braucht es neben einer Ethik im Nahbereich auch eine Ethik im Fernhorizont. Und das nicht nur in räumlicher, sondern auch in zeitlicher Hinsicht, tragen wir doch auch Verantwortung für das Leben künftiger Generationen.

Sich für den "fernen Nächsten" einzusetzen, zum Beispiel in den Ländern des globalen Südens, ist keine Alternative zur Nächstenliebe, sondern deren notwendige Ausweitung. Im konkreten Fall handelt es sich bei den Erdbebenopfern nicht einmal um uns völlig fernstehende Menschen, sondern solche, die unmittelbar in Europas Nachbarschaft leben. Das Motto "Nachbar in Not" trifft in diesem Fall ganz besonders zu.

Viele Menschen, die bei uns leben, haben Verwandte in den türkischen und syrischen Erdbebengebieten - oder dort Familienangehörige verloren. Es wäre ein Akt der Humanität gewesen, Betroffenen, die Verwandte in Österreich haben, durch vereinfachte Visaverfahren zu ermöglichen, zeitweilig bei uns unterzukommen, so wie es andere europäische Länder getan haben. Unsere Regierung hat dies bedauerlicherweise abgelehnt. Ihr Prinzip sei "Hilfe vor Ort". Die braucht es in der Tat - und das auf längere Sicht. Die Formel sollte aber grundsätzlich nicht als Vorwand dienen, andere Hilfsmöglichkeiten prinzipiell auszuschließen.