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Wir können Geschichte und Gegenwart nicht verstehen, wenn die Vor-Geschichte im Dunkeln bleibt. Zugegeben, diese Erkenntnis klingt banal, ist es aber nicht. Zu oft übersehen wir die Wucht der Vor-Geschichte.
Besonders deutlich wird dies bei der weitverbreiteten Fassungslosigkeit, mit der wir vor den Wahlsiegen und Stimmenzuwächsen für kaum bis unerträgliche Politiker und Parteien stehen. Fast allen diesen verstörenden Wahlergebnissen steht ein Totalversagen der vorangegangen Machtträger gegenüber.
Zum Beispiel Brasilien: Das Phänomen Jair Bolsonaro, der verspricht, mit der Waffe in der Hand wieder für Ordnung zu sorgen, wird, wenn die Umfragen stimmen, als stärkster Kandidat in die Stichwahl um die Präsidentschaft einziehen. Die Wut, welche die Brasilianer nun Bolsonaro in die Arme treibt, erklärt sich auch daraus, dass die linke Arbeiterpartei, die zuvor die Hoffnungen auf eine Wende hin zu einer sauberen und sozialen Politik verkörpert hatte, genauso im Korruptionssumpf des Landes versunken ist wie alle ihre Vorgänger.
Oder Italien: Die Geduld der Bürger mit ihren Regierungen war fürwahr fast unerschöpflich. Erst während der Nachkriegsjahrzehnte, dann - nach dem Kollaps Anfang der 1990er Jahre - mit deren Nachfolgeparteien. Geändert hat sich seitdem an struktureller Korruption, Misswirtschaft und Klienteldenken wenig. Also wählten die Bürger den nächsten großen Bruch. Jetzt regieren Rechts- und Linkspopulisten in seltsamer Allianz.
Oder Ungarn: Viktor Orbán gewann die Wahl 2009, die ihm erstmals die absolute Mehrheit sicherte, nicht aus eigener Kraft, sondern weil zuvor der amtierende sozialistische Ministerpräsident offen einbekannte, die Bürger angelogen und über den wahren Zustand des Staats belogen zu haben, um den eigenen Wahlsieg nicht zu gefährden.
Die Liste ließe sich noch lange fortführen. Gemeinsam ist allen die bewusste und absichtsvolle Diskreditierung des Bestehenden durch die jeweiligen Mächtigen. Es fällt einigermaßen schwer, an das Verantwortungsbewusstsein der Wähler zu appellieren, wenn die Eliten und etablierten Parteien selbst sich der absoluten Verantwortungslosigkeit hingeben. Wer trägt angesichts dessen die größere Verantwortung: die Parteien, die jedes Vertrauen verspielen, oder die Bürger, die im Zorn und aus Verzweiflung den Bruch an der Wahlurne vollziehen?
Es kann nicht oft genug gesagt werden: Wenn die Politiker und Parteien der Mitte versagen, wenn die Etablierten sich selbst auf Kosten des Wir bereichern und die Sorgen der Menschen ignorieren, beginnt hier der Anfang der Verantwortung für die Wut und Frustration der Bürger.