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Wiener Zeitung:Herr Lethen, Sie sind seit Oktober vergangenen Jahres Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) in Wien. Welche Schwerpunkte setzen Sie bei Ihrer Tätigkeit?Helmut Lethen: Das IFK ist wie ein Wissenschaftskolleg konzipiert. Wir haben keine "permanent fellows" hier, sondern senior und research fellows, die nur für vier Monate hier arbeiten. Interessant ist daran der osmotische Austausch, der zwischen den älteren und den jüngeren Wissenschaftern stattfindet. Das ist eine Situation, die es in der österreichischen Wissenschaft sonst nirgendwo gibt. Nach meinem Verständnis soll dieses Institut eine Bühne sein, auf der Wissenschafter unterschiedlicher Disziplinen miteinander ins Gespräch kommen können. Ich träume davon, dass sich der Neurobiologe mit dem Kunsthistoriker, der Kunsthistoriker mit dem Juristen oder dem Mediziner über gemeinsame Probleme austauscht. Das ist allerdings leichter gesagt als getan, da die Fachsprachen der jeweiligen Wissenschaft von Vertretern anderer Fakultäten in der Regel schwer verstanden werden.
Muss diese Inflation der Fachsprachen wirklich sein?
Viele Disziplinen haben Spezialsprachen entwickelt, die bis zu einem gewissen Grad auch als Motor der Erkenntnis funktionieren können. Allerdings muss es auch ein Forum oder ein Medium geben, in dem die Eigendynamiken der Einzeldisziplinen wieder in einem gemeinsamen Gespräch zusammengeführt werden. Daran müsste auch die Öffentlichkeit beteiligt sein. Denn wenn wir die Mathematiker, Chemiker, Physiker, Genetiker völlig sich selbst überlassen, dann können wir irgendwann nicht mehr beurteilen, ob das, was sie tun, gerechtfertigt ist, oder ob es sich um eine Verschwendung öffentlicher Ressourcen handelt. Die Forschungsergebnisse aller akademischen Disziplinen müssen in die Sprache eines interessierten Laienpublikums übersetzbar sein.
Sie haben bis jetzt nur von den Naturwissenschaften gesprochen. Wie sieht es in Ihrer eigenen Disziplin aus?
Dort gibt es dieselbe Entwicklung - bis hin zu der ironischen Tatsache, dass sich ausgerechnet die Kommunikationstheoretiker den Laien kaum noch verständlich machen können. Das heißt, auch wir Geisteswissenschafter brauchen Dolmetscher, die etwa die Ergebnisse der Medientheorie in die Alltagssprache zurückübersetzen. Ich finde, dass auf die Leistungen des Wissenschaftsjournalismus, Wissenschaften zu dolmetschen, viel zu wenig Wert gelegt wird, und ich möchte mit meiner Arbeit im IFK dazu beitragen, dass sich das ändert.
Es fällt auf, dass der Direktor eines kulturwissenschaftlichen Instituts von "Geisteswissenschaft" spricht. Worin besteht der Unterschied zwischen Kultur- und Geisteswissenschaft?
Der Unterschied besteht nur darin, dass die Kulturwissenschaft die klare Grenzziehung, die der Begriff "Geisteswissenschaft" suggeriert, nicht mehr akzeptiert. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde plötzlich scharf zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften unterschieden, obwohl es für diese Unterscheidung keinen sachlichen Grund gibt. Deshalb hat die Kulturwissenschaft diese Grenzziehung hinter sich gelassen. Sie akzeptiert keine klaren Trennlinien zwischen Rechtswissenschaft, Kunstgeschichte, den bildgebenden Verfahren der Naturwissenschaften oder der Statistik. Dadurch erweitern sich die möglichen Themenstellungen: Die Geschichte des Energiebegriffs im 18. Jahrhundert ist ebenso eine kulturwissenschaftliche Aufgabe wie eine Studie über den Begriff des Souveräns in ökonomischen Theorien des 18. und 19. Jahrhunderts. Dieses Thema wäre früher eher der Ökonomiegeschichte zugeordnet worden, aber der Vorteil der Kulturwissenschaft besteht eben darin, dass sie sich an solche klaren Zuordnungen nicht zu halten braucht. Natürlich setzt man sich dabei zuweilen dem Verdacht des Dilettantismus aus.
Bei wem?
Die gerade erwähnte Arbeit über den Energiebegriff des 18. Jahrhunderts wurde zum Beispiel der ETH Zürich als Projekt vorgeschlagen. Und da sagte ein Physiker: "Aber das ist doch alles völlig veraltet! Wen kann denn das noch interessieren?" Der Physiker beschäftigt sich also nur mit dem heutigen Stand der Forschung, während die Wissenschaftshistoriker die ausgemusterten Modelle der Wissenschaftsgeschichte gerade besonders genau anschauen. An diesem Beispiel zeigt sich, dass die "zwei Kulturen", von denen oft die Rede ist, tatsächlich existieren. Die Erkenntnisinteressen der Naturwissenschaft sind nicht ohne weiteres mit denen der Kulturwissenschaft zu vereinen. Umso wichtiger wäre es aber, den Dialog zwischen diesen beiden Kulturen zu führen. Dabei sind wir auf Vermittler angewiesen, also zum Beispiel auch auf kompetente Wissenschaftsjournalisten. Die gibt es bisher in den angelsächsischen Ländern häufiger als im deutschsprachigen Raum.
Dieser Dialog wird allerdings von einem Legitimationsproblem überschattet: Die Öffentlichkeit wird in der Regel akzeptieren, dass es Institute für theoretische Physik und dergleichen geben muss, in denen Themen bearbeitet werden, die nur wenige Menschen verstehen können. Bei der kulturwissenschaftlichen Forschung scheint die öffentliche Toleranz geringer zu sein.Ja, das ist wirklich merkwürdig. Wenn sich ein Max Planck-Institut zehn Jahre lang mit dem Zustand des Magens von Termiten beschäftigt, dann wird die Frage des Nutzens überhaupt nicht gestellt. Langzeitforschungen dieser Art sind gerechtfertigt, und tatsächlich zeigt sich jetzt, dass im Termitenmagen Erkenntnisse über die Möglichkeit von Biosprit verborgen waren. In den Geisteswissenschaften gibt es ähnliche Vorgänge, wie man am Beispiel der Orientalistik sehen kann. Als ich in den sechziger Jahren studiert habe, war das ein völlig exotisches Fach, das die Universitäten am liebsten abgeschafft hätten. Aufgrund seiner langen Tradition wurde es zwar aufrechterhalten, aber die orientalistischen Institute dämmerten vor sich hin und betrieben Grundlagenforschung, mit der niemand etwas anzufangen wusste.
Nun haben wir eine neue historische Konstellation, die Islamwissenschaften gewinnen an Wichtigkeit, und auf einmal erkennt man den Nutzen jener scheinbar überflüssigen orientalistischen Forschungen. Einen ähnlichen Aufschwung erlebt zurzeit die Sinologie, die lange ein winziges Minderheitenfach war und heute plötzlich von einer nicht zu übertreffenden Aktualität ist. Das heißt, der gesellschaftliche Nutzen des Wissens erweist sich oft erst in der Langzeitperspektive. Das ist bei den Kulturwissenschaften nicht anders als bei den Naturwissenschaften, bei denen es von der Öffentlichkeit jedoch toleranter hingenommen wird.
Warum ist das so?
Die Geisteswissenschaften haben für lange Zeit das Deutungsmonopol in der Gesellschaft für sich beansprucht, und zwar in durchaus imperialer Weise. Im 19. Jahrhundert waren die Naturwissenschaften eine Angelegenheit für Fachhochschulen, während die Universitäten geisteswissenschaftlich orientiert waren. Mittlerweile ist das anders: Die Naturwissenschaften bewegen sich heute sogar in angestammten geisteswissenschaftlichen Gebieten. Zum Beispiel haben die Neurophysiologen in letzter Zeit das alte Philosophenthema der Willensfreiheit für sich erobert. Das kann man als Rache der Naturwissenschaften verstehen, und eigentlich auch akzeptieren. Denn es ist ja sehr die Frage, ob die Geisteswissenschaften wirklich das umfassende Reflexionsmedium für alle anderen Fächer sein können. Wenn sie diesen Anspruch erheben, müssen sie erst einmal ihre Befähigung dazu beweisen. Das können sie nur, wenn sie auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse in ihre Reflexion einbeziehen. Wir müssen die Ergebnisse der Biowissenschaften zu verstehen versuchen und uns fragen, ob wir nicht gezwungen sind, unsere Anthropologie - also unsere Lehre von der Natur des Menschen - unter dem Einfluss neuer Erkenntnisse grundlegend zu ändern. Wenn die Geisteswissenschaften diese Herausforderung annehmen, dann haben sie auch den Naturwissenschaften etwas zu sagen. Wenn sie sich aber abschotten in der selbstzufriedenen Gewissheit, dass sie seit Hegel ohnehin die Deutungshoheit über alle gesellschaftlichen Prozesse besitzen, dann verlieren sie ihre wichtigste Funktion.
Warum werden diese kulturwissenschaftlichen Diskussionen und Reflexionen in der breiteren Öffentlichkeit eigentlich so wenig zur Kenntnis genommen? Liegt das an der Öffentlichkeit oder an der Kulturwissenschaft?
Das erste Problem ist, dass man die Kulturwissenschaft so schlecht bebildern kann. Sie können in der Zeitung zwar unsere Porträts abbilden, aber meist lässt sich die kulturwissenschaftliche Arbeit nicht gut in Bilder übersetzen. Das zweite Problem ist, dass die Kulturwissenschaften zwar sehr innovativ sind, ihre Erkenntnisse aber in der Regel nicht gut an die Universitäten zurückkoppeln. Deshalb besteht ein Großteil meiner Arbeit hier im Reden mit Vertretern der Universitäten. Das IFK muss zwar autonom bleiben, aber es sollte besser vernetzt werden mit der Hochschulforschung und -lehre. Drittens müssen wir verstärkt Themen aufgreifen, die nicht esoterisch sind, sondern das Herz öffentlicher Diskussionen berühren. Im Januar 2009 werden wir eine große Konferenz über Anthropologie und neue Biologie veranstalten. Da geht es eben um die Frage, welche Konsequenzen die Geisteswissenschaften aus den neuesten biologischen Forschungen ziehen sollten. Das trifft einen Nerv der öffentlichen Diskussion.
Sie sind in erster Linie Germanist. Haben Sie auch den Eindruck, dass viele Germanisten oder Literaturwissenschafter in der Öffentlichkeit gar nicht mehr so gern über Literatur reden, sondern lieber über Themen wie Fußball, Essen oder Popmusik?
Als Literaturwissenschafter ist man mit einem merkwürdigen Umstand konfrontiert: Die Literatur selbst kann alles, was es auf der Welt gibt, zu ihrem Stoff machen. Die Literaturwissenschaft dagegen muss sich beschränken: Sie fragt nach der Eigengesetzlichkeit bestimmter Genres, den Metren der Lyrik und ähnlichen Problemen. Diese Beschränkung hat natürlich etwas für sich, aber wir sind trotzdem immer in Versuchung, uns der Anziehungskraft der Stoffe zu überlassen. Ich bin ein lebendes Beispiel für einen Germanisten, der sich immer wieder von den Stoffen der Literatur dazu verführen lässt, über die Grenzen der literaturwissenschaftlichen Betrachtung hinauszugehen.
Wollen Sie damit sagen, dass die Literaturwissenschaft eigentlich erst dann interessant wird, wenn sie die akademisch anerkannten Fragestellungen hinter sich lässt?
Im Mai 1968 haben wir das Institut für Germanistik in Berlin besetzt und haben es "Walter Benjamin-Institut" genannt. Unsere Parole war "Die Literaturwissenschaft lehrt das Interesse an der Literatur als Desinteresse an der Gesellschaft". Diese Parole, die mir heute noch gut gefällt, traf den damaligen Zustand der Literaturwissenschaft vollkommen richtig. Wir haben die Parole einfach umgedreht und gesagt, wir interessieren uns für die Gesellschaft, und die Literatur ist nur noch dazu da, gesellschaftliche Zustände zu erhellen. Das war ein Fehlschluss, der aber ganz produktiv gewirkt hat. Inzwischen hat die Literaturwissenschaft massiv zurückgeschlagen, die alten Denkformen der fünfziger Jahre haben sich wieder etabliert.
Damit wir jetzt nicht zu fachspezifisch werden, zum Schluss noch eine Frage zu dem Thema, dem die Arbeit des IFK in diesem Semester vor allem gewidmet ist. Es heißt "Evidenz". Können Sie erklären, worum es dabei geht?
Am besten lässt es sich mit einer Geschichte illustrieren. Vor kurzem ist ein Buch erschienen, in dem dargestellt wird, dass während des Zweiten Weltkriegs 80 deutsche Generäle auf einem englischen Landsitz luxuriös einquartiert wurden, um ihnen die Zunge zu lösen. Und tatsächlich haben diese Herren sich sehr freimütig über Kriegsverbrechen und anderes geäußert. Dass sie dabei vom britischen Geheimdienst abgehört wurden, wussten sie nicht. Im Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess konnten diese Dokumente allerdings nicht benutzt werden. Da sie illegal abgehört worden sind, besaßen sie vor Gericht keine Evidenz. Mit Problemen dieser Art beschäftigen wir uns. Wir werden im IFK eine Serie von internationalen Konferenzen dazu abhalten, eine trägt den Titel "Das Gericht als Ort der Herstellung von Evidenz", eine andere heißt "Die Anschaulichkeit der Geschichte". Dort wird untersucht werden, ob und wie sich historische Vorgänge unmittelbar sinnlich - also "evident" - im Bild darstellen lassen.
Aber was bedeutet der Begriff "Evidenz" ganz genau?
Der Begriff wird in den verschiedenen Wissenschaften sehr unterschiedlich verwendet. Für einen Theologen ist er gleichbedeutend mit "Offenbarung", in der Kunsttheorie liegt die Evidenz eines Kunstwerks in der Art seiner Wirksamkeit. Die schönste Definition des Begriffs heißt: ""vident ist, was einleuchtet, weil es ausstrahlt." Dieser Vorgang scheint sehr einfach zu sein. Man braucht dazu keine Vermittler oder Interpreten, denn die würden die unmittelbare Wirkung nur verderben.
Wenn ich mich aber frage "Warum leuchtet etwas ein? Und warum strahlt es aus?", dann muss ich mich mit Problemen der medialen Vermittlung beschäftigen. Dass ein Foto zum Beispiel etwas ausstrahlt, weiß jeder. Aber nach welchen Regeln kommt ein Foto zustande? Warum wirken Schwarz-Weiß-Fotos für uns oft authentischer als farbige, obwohl es in der Wirklichkeit keine rein schwarzen oder weißen Tatbestände gibt? Das sind Fragen, für die sich die Kulturwissenschafter interessieren.
Zur Person:
Helmut Lethen, geboren 1939, ist seit Oktober 2007 Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) in Wien. Von 1996 bis 2004 hatte er einen Lehrstuhl für Neueste Deutsche Literatur an der Universität Rostock inne, von 1977 bis 1996 war er Professor an der Universität Utrecht/Niederlande. Lethens thematische Schwerpunkte: Konzepte der Historischen Avantgarden 1910 - 1930; Verhaltenslehren des 20. Jahrhunderts und die Tradition der europäischen Moralistik; Literatur, Anthropologie und Biologie in den 1930er-Jahren; Kulturen der Evidenz.
Das IFK wurde 1993 gegründet und ist eine der führenden kulturwissenschaftlichen Einrichtungen im deutschsprachigen Raum. Das Institut ist ein unabhängiges und außeruniversitäters Wissenschaftskolleg mit starker internationaler Ausrichtung.
Pro Jahr forschen rund 30 Fellows aus dem In- und Ausland am IFK. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses gelegt. Neben wöchentlichen Vorträgen von Fellows und Gästen organisiert das IFK jährlich sechs bis acht Tagungen und andere öffentlich zugängliche Veranstaltungen. Näheres unter http://www.ifk.ac.at.
Publikationen (Auswahl):
Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit. Rowohlt Verlag, Berlin 2006.
Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1994.
Neue Sachlichkeit 1924 - 1932. Studien zur Literatur des "weißen Sozialismus". Metzler Verlag, Stuttgart 1970, zweite Auflage 1976.