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Helmut Lind, Vorstandsvorsitzender der Münchner Sparda-Bank, spricht über Gemeinwohlbilanzen, die sein Institut seit 2011 vorlegt, über Schulden- und Vermögenskrisen, über moderne Personalführung, die die Potenziale der Mitarbeiter fördert - und über seinen persönlichen Entwicklungsweg vom Bauernbub zum Bankdirektor.
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"Wiener Zeitung": Herr Lind, Sie sitzen in einem eher unspektakulären Gebäude direkt am Münchner Hauptbahnhof, das ein wenig so aussieht, wie der Name Sparda-Bank klingt: solide, aber bieder. Lässt sich damit auch das Wesen dieser Bank beschreiben?
Helmut Lind: Das trifft unser Wesen sogar ziemlich exakt. Laut Marken-Kernanalyse, die anonym durchgeführt wird, sind das genau die Werte, die unsere Kunden mit uns verbinden. Neben solide und bieder werden dabei auch immer Attribute wie bodenständig, langweilig, ursprünglich und sicher genannt. Aber mit dieser Bewertung kann ich in Zeiten wie diesen ganz gut leben.
Aber was machen Sie mit potenziellen Bankkunden, die Sie und Ihre Unternehmensphilosophie - "Werte schaffen Erfolg" - so langweilig finden, dass sie ihr Geld lieber bei der Konkurrenz deponieren? Ist der Slogan "Leistung durch Leidenschaft", mit dem ein anderes Bankhaus wirbt, nicht viel peppiger?Ach, wissen Sie, es gab gewiss Zeiten, in denen ich in einer solchen Situation begonnen hätte, zu missionieren . . .
. . . und heute nicht mehr?
Sagen wir es einmal so: Zumindest missioniere ich nicht mehr so stark, weil ich inzwischen gelernt habe, die Menschen so zu lassen, wie sie sind.
Allerdings ist es mir ein großes Anliegen, dass unsere Kunden uns anders wahrnehmen als andere Institute. Dass es bei einer Bank also nicht nur um Preise und Leistung geht, sondern auch um eine Haltung, ja, man könnte fast sagen: um einen Charakter, der zu meinem Charakter als Kunde passt.
Gehört dazu, Ihre Marke emotional aufzuladen?
Exakt! Das klingt jetzt vielleicht ein wenig sentimental, aber ich will Ihnen das mit Hilfe eines Bildes verdeutlichen. Wenn Sie heute einen jungen Baum draußen auf dem Feld sehen, dann steht der unbewegt da. Wenn nun ein Wind weht, fängt der Baum an sich zu biegen. Das heißt, erst der Baum verleiht dem Wind eine körperliche Form. Auf die Bank bezogen heißt das: Jeder Mitarbeiter, der Kundenkontakt hat, ist wie dieser Baum, er verkörpert die Atmosphäre in der Bank und lässt den Kunden spüren, dass hier etwas anders ist.
Sie klingen gerade recht leidenschaftlich. Würden Sie sich selbst auch als emotional bezeichnen?
Ein klares Ja. Ich habe mit den Jahren begriffen, dass Emotionalität ein Teil von mir ist, den ich mittlerweile auch zulassen kann. Aber soll ich Ihnen verraten, was eine enge Mitarbeiterin befürchtete, als ich Vorstand wurde?
Nämlich?
Ihr Kommentar lautete: "Muss es denn ausgerechnet der Helmut Lind sein? Der ist immer so strukturiert und so verbindlich. Das wird nicht leicht."
Hatte die Dame Recht?
Leider ja. Ich habe erst als Enddreißiger begonnen, mich mit mir selbst zu beschäftigen, mich und meine Bedürfnisse besser kennen zu lernen. Auf diesem Weg der Selbstfindung habe ich gelernt, mich mehr zu öffnen. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Anderen sich dann ebenfalls mehr Offenheit zugestehen und tatsächlich so etwas wie ein energetischer Prozess im Unternehmen entsteht. Insofern glaube ich, wir sollten private nicht von beruflichen Werten trennen. Das, was uns privat wichtig ist, etwa für gelingende Beziehungen oder andere Dinge, das sollte auch im Business gelten.
Sie sind auf einem Bauernhof aufgewachsen. Man könnte sagen, dass Sie damit nicht unbedingt zum Vorstandschef prädestiniert sind. Wie haben Sie es trotzdem an die Spitze der größten bayerischen Genossenschaftsbank geschafft?
Diese Frage habe ich mir schon oft gestellt. Kindheit auf dem Bauernhof bedeutet, sehr früh in die Arbeitsabläufe eingebunden zu werden, bereits in sehr jungen Jahren Verantwortung zu übernehmen und auch keine Ferien zu haben wie etwa die Schulkameraden. Kurz gesagt: Man wird sehr früh mit dem Leistungsprinzip vertraut gemacht. Manche mögen belächeln, was ich jetzt sage: Ich bin der Überzeugung, dass sich jeder seinen Platz im Leben aussucht.
Wann haben Sie es sich ausgesucht, Vorstandschef einer Bank zu werden?
Diesen - übrigens sehr starken - Wunsch habe ich erstmals mit Anfang 20 verspürt.
Aber haben Sie sich auf Ihrem Weg nach oben nie schwer getan, weil sie - verzeihen Sie den Kalauer - den falschen Stallgeruch hatten? Oft sind es doch elitäre Zirkel, bei denen der Besuch etwa bestimmter Universitäten eine Grundvoraussetzung für die Karriere ist.
Das ist eine gute Frage. Ängste und Selbstzweifel habe ich sicherlich erlebt und dennoch: Neben diesen grüblerischen Gedanken habe ich sehr klar den starken Willen in mir gespürt, einmal eine Bank leiten zu wollen.
Nun haben Sie Ihr Ziel erreicht: Sie sind ein erfolgreicher Banker, allerdings in einer Zeit, in der Menschen gegen "Bankster" und das Finanzsystem auf die Straße gehen. Was geht Ihnen dabei durch den Kopf?
Im Kern begrüße ich die Proteste, gern auch vor Mitarbeitern und Führungskräften. Ich finde es stark, dass die Occupy-Bewegung existiert. Das, was gerade in der Finanzwelt geschieht, würde ich als die Entmystifizierung eines Systems bezeichnen. Das ist wie ein Nebel, der sich gerade lichtet.
Fühlen Sie sich als Bankenchef in keiner Weise angegriffen?
Nein, denn die Occupy-Bewegung fordert ja nicht die Abschaffung der Banken, sondern ein alternatives Wirtschaftsmodell. Zudem reklamieren die Aktivisten genossenschaftliche Werte wie etwa Hilfe zur Selbsthilfe oder Selbstverwaltung. Und statt des Shareholder-Ansatzes, der den Wert eines Unternehmens allein aus der Sicht der Eigentümer, also der Aktionäre oder Anteilseigner, ermittelt, propagieren sie den Stakeholder-Ansatz, der auch die soziale Verantwortung eines Unternehmens berücksichtigt und danach fragt, inwiefern es sämtliche Anspruchsgruppen die von seiner Tätigkeit betroffen sind (also auch die Mitarbeiter, die Kunden, die Öffentlichkeit), berücksichtigt. Das sind alles Dinge, die wir bereits umsetzen. Im Grunde sage ich also: Danke, Occupy!
Sehen Sie in Occupy geistige Verbündete?
Soweit gehe ich nicht. Ich bin Occupy jedoch dankbar, und zwar dafür, dass sie den Mut haben, auf die Straße zu gehen, um die Aufmerksamkeit auf das Thema Finanzsystem zu lenken und dieses System auch zu verändern. Leider finden sich bei Protesten jeglicher Art auch immer Menschen mit krimineller Energie. Von dieser Art Demonstrationen distanziere ich mich ausdrücklich.
Sie haben beim bundesweiten Wettbewerb "Deutschlands beste Arbeitgeber" bereits mehrfach in der Kategorie Banken den ersten Platz belegt. Was machen Sie anders als die anderen?
Ich beginne gleich einmal mit dem Negativen: Es gibt mit Sicherheit einzelne Mitarbeiter, die der Ansicht sind, dass alles, was wir in Sachen Gemeinwohl unternehmen, nur Greenwashing sei, gewissermaßen eine Art Öko-Fassade. Das sind diejenigen, die genossenschaftliche Werte gern als eine Art Waffe benutzen, und zwar insbesondere dann, wenn sie gerade kritisiert wurden.
Sie meinen Mitarbeiter, die von einer permanenten Komfort-Zone träumen?
Exakt! Eine Bilderbuchwelt haben wir jedoch hier im Haus definitiv nicht. Wenn wir aber bereits zum fünften Mal in Folge ausgezeichnet wurden, ist das natürlich ein klares Signal. Unsere Mitarbeiter erhalten 14,4 Gehälter, sie bekommen Essensschecks und ein Jobticket. Darüber hinaus haben wir 150 Teilzeitmodelle und versuchen, auch Mütter einzubinden, die nur einen Tag pro Woche arbeiten können. Schließlich hat fast jeder unserer Mitarbeiter schon an "Stärken-Workshops" teilgenommen, bei denen man sich selbst besser kennen lernen kann und herausfinden soll, welche Tätigkeiten einem besonders liegen.
Es gibt inzwischen genug Studien, die belegen, dass gute Personalführung den Umsatz steigert. Was verstehen Sie unter Führung?
Führung hat für mich nichts mit Befehlen zu tun, sondern mit Dienen. Ich versuche, die Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen sich Menschen wirklich entfalten können. Mir geht es darum, eine neue Führungskultur zu etablieren, in der die "Potenzialentfaltung", wie es der Neurobiologe Gerald Hüther formuliert hat, im Mittelpunkt steht. Das aber ist natürlich nur dann möglich, wenn die Anderen wollen, was bei den Allermeisten im Haus auch der Fall ist.
Was machen Sie mit denen, die nicht offen für Ihre Art der Führung sind?
Wenn sich herausstellen sollte, dass der- oder diejenige nicht zu uns passt, trennen wir uns. Da wird kein Schmusekurs gefahren.
Worauf legen Sie Wert, wenn Sie Mitarbeiter einstellen?
Jemand, der gern bei uns arbeiten möchte, sollte im Idealfall auf sein Bauchgefühl hören, zudem authentisch und so weit reflektiert sein, dass er seine Stärken ein Stück weit kennt. Schließlich sollten Bewerber sich nicht nur mit unserer Firmenphilosophie, sondern auch mit der Gemeinwohlbilanz beschäftigt haben. Es reicht sicher nicht aus, einmal davon gehört zu haben, wie wir es neulich in einem Fall erlebt haben.
Nun ist die Gemeinwohlbilanz in der Tat nichts Alltägliches. Die Sparda-Bank München ist eines der Unternehmen, die sich 2011 der Initiative "Gemeinwohlökonomie" angeschlossen haben. Ihre Bank hat im gleichen Jahr erstmals neben der Geschäftsbilanz auch eine Gemeinwohlbilanz vorgelegt. Was kann man sich darunter vorstellen?
Es geht darum, etwas zu schaffen, bei dem man aus der eindimensionalen Betrachtungsweise einer klassischen Finanzbilanz herauskommt. Denn darin steht eben nichts über die Zufriedenheit oder den Gesundheitszustand der Mitarbeiter und die Kundenzufriedenheit - oder darüber, ob ein Unternehmen umweltbewusst wirtschaftet. Ziel ist es, neben die reinen Tauschwertindikatoren sogenannte Nutzwertindikatoren zu setzen.
Ein Beispiel bitte.
Mit der Gemeinwohlbilanz wollen wir Transparenz schaffen für Dinge wie Solidarität, soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit und diese auch in die strategische Ausrichtung der Bank einbauen. Wir wollen uns nicht nur mit Cash-Flow, Eigenkapitalrentabilität und dergleichen beschäftigen. Strategisch sind wir ganz anders unterwegs, wenn wir beide Zielsetzungen verfolgen. Letztlich sollte es irgendwann nur noch eine Universalbilanz geben, in der gar nicht mehr zwischen beiden Bereichen getrennt wird.
Gemeinwohl ist ja nun ein durchaus gern verwendeter Begriff, der sogar in der Bayerischen Verfassung zu finden ist: "Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl." Ist die kapitalistische Ökonomie, wie wir sie momentan haben, also verfassungswidrig?(lacht) Das würde jeder verneinen, da bin ich mir ganz sicher! Aber Sie haben es treffend formuliert: Einerseits ist Gemeinwohl ein schwammiger Begriff, den sich viele gern zu eigen machen und in ihrem Sinn definieren, andererseits ist er sehr abstrakt und schwer zu fassen. Aber ich denke in der Tat, dass wir es mit einem Auslaufmodell zu tun haben. Die industrialisierte Maschine ist am Ende. Das Wachstum der letzten Jahre entsteht nur noch aus Schulden. Im Grunde aber haben wir keine Schulden-, sondern eine Vermögenskrise. Denn nicht nur die Schulden wachsen, sondern vor allem auch die Vermögen. Und wie bei jeder guten Bilanz geht es darum, hier einen Ausgleich zu schaffen.
Und wie?
Wir müssten eigentlich nur umbuchen. Aber die Frage ist: Dürfen wir umbuchen? Ich mache es bewusst so banal, weil es nämlich genau das ist - total banal. Und nicht trotz, sondern aufgrund der Krise geht die Schere in der Vermögensverteilung noch weiter auseinander, denn die Vermögen wachsen dank der herrschenden ökonomischen Gegebenheiten ungleich stärker als vor der Krise.
Heißt das aber nicht auch, dass der Staat, der ja die Regeln setzt, als Instanz zur Gemeinwohlwahrung ausfällt?
Ja, verändernde Kraft kann aus meiner Sicht nur die Zivilgesellschaft sein. Sie muss dafür sorgen, dass es ein Ende damit hat, Schulden zu solidarisieren und die Vermögen an einzelnen Stellen noch weiter ausbauen. Dann kann auch wieder die Mehrheit daran partizipieren.
Und wie lange wird das dauern, bis sich etwas ändert?
Wenn man David Graeber glaubt und seinem jüngst erschienenen Buch "Schulden. Die ersten 5000 Jahre", dann steht uns in nicht allzu ferner Zukunft wieder einmal eine von der Schuldenkrise ausgelöste Revolution bevor. Der Weg der Gemeinwohlökonomie hingegen ist ein evolutionärer, und ich bete jeden Tag dafür, dass uns genügend Zeit für diesen Weg bleibt. Sollte alles zusammenbrechen, habe ich bereits meinen Vater gefragt, ob ich dann nicht wieder Kartoffeln anpflanzen kann bei ihm.
Sie sehen also schwarz?
Für mich stehen die Chancen 50 zu 50. Wer sich in der Münchner Innenstadt umsieht, muss allerdings den Eindruck gewinnen, ich hätte mit meiner Prognose völlig Unrecht.
Aber wie lässt sich dieser Übergang in eine Gemeinwohlökonomie im Rahmen einer ganzen Volkswirtschaft bewerkstelligen?
Das geht natürlich nur über eine kollektive Bewusstseinsveränderung, das wird nicht vom Staat oder von der Wirtschaft kommen. Es gibt den schönen Satz: Zukunft entsteht aus Krise. Vielleicht müssen ab und zu die Uhren auf Null gestellt werden, damit man anfängt, komplett umzudenken. Wir erleben gerade so etwas wie eine Zeitlupenexplosion.
Wie heftig wird die Explosion ausfallen?
Darauf habe ich keine Antwort, ich sehe allenfalls unterschiedliche Szenarien. Ich wünsche mir allerdings einen sanften Weg.
Abschließend noch die Bitte um eine Prognose: Wie lange wird es den Euro noch geben?
Entweder es kommt zu einer Transferunion, wie auch immer die konkret ausgestaltet ist, dann bleibt der Euro. Oder das Ganze verkompliziert sich immer weiter, Deutschland isoliert sich immer mehr mit seiner Haltung, und ein Land nach dem anderen sagt: Es geht nicht mehr, diese Sparpolitik ist nicht mehr durchzuhalten, wir gehen raus aus dem Euro. Dann aber bekommt Deutschland ein Problem, denn kein Land hat von der Gemeinschaftswährung so sehr profitiert.
Sonja Panthöfer, geboren 1967, arbeitet als Journalistin und Coach in München.
Andreas Wirthensohn, geboren 1967, ist freier Lektor, Übersetzer und Literaturkritiker in München.
Zur Person<br style="font-weight: bold;" /> Helmut Lind, geboren 1961 in Marburg/Lahn, ist seit 2006 Vorstandsvorsitzender der Sparda-Bank München eG, der größten bayerischen Genossenschaftsbank mit fast 250.000 Mitgliedern. Nach Banklehre und Diplom als Bankbetriebswirt kam er über eine hessische Geschäftsstelle und den Verband der Sparda-Banken 1996 nach München. Lind arbeitet konsequent an der Gemeinwohlorientierung der Bank. So belegte sie 2011 beim Wettbewerb "Deutschlands beste Arbeitgeber" zum vierten Mal Platz 1 unter den Banken (Kategorie: 501 bis 2000 Mitarbeiter). Neben sozialem Engagement hat sich die Sparda-Bank München 2011 in Deutschland als erster Finanzdienstleister der Initiative "Gemeinwohl-Ökonomie" angeschlossen und im gleichen Jahr erstmals eine Gemeinwohlbilanz veröffentlicht (abrufbar unter www.sparda-m.de/gemeinwohlbericht.php).
Die Initiative zur Gemeinwohl-Ökonomie wurde 2010 in Österreich ins Leben gerufen und propagiert ein "Wirtschaftsmodell mit Zukunft". Mehr als 800 Unternehmen unterstützen die Initiative. Weitere Informationen dazu findet man auf www.gemeinwohl-oekonomie.org und in Christian Felbers Buch "Gemeinwohl-Ökonomie", das 2012 in 2. Auflage im Zsolnay-Verlag erschienen ist.