Henkels Kritik an Deutschland gilt im Wesentlichen auch für Österreich. | Starke Attacke auf "Neosozialismus" und Opportunismus. | Neid ist das dominierende Gefühl beim Lesen dieses Buches. Neid, weil es in Österreich seit Jahrzehnten keinen Wirtschafts-Exponenten gibt, der auch nur annähernd so fundiert, so kämpferisch, mit so vielen philosophischen Querbezügen und auch mit so viel Lust am Brechen von Tabus zu schreiben versteht.
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"Der Kampf um die Mitte - Mein Bekenntnis zum Bürgertum" ist nicht das erste Buch von Hans-Olaf Henkel, aber es ist wohl der bisher heftigste Rundumschlag des langjährigen Chefs der IBM-Deutschland, des BDI (der großen deutschen Schwester der Industriellenvereinigung) und der Leibniz-Gemeinschaft (einer Kooperation deutscher Forschungs-Institutionen). Ein Rundumschlag, bei dem jeder einzelne Schlag den Solarplexus trifft.
Auch wenn es nach einem Widerspruch in sich klingt: Unverdrossene Resignation ob der Zustände in Deutschland prägen das Buch von der ersten bis zur letzten Seite. Obgleich Henkel nur über Deutschland schreibt, so bräuchte man meistens nur das Wort "Österreich" einsetzen, um seiner Anklageschrift auch hierzulande Gültigkeit zu verschaffen.
Es seien aber auch die Schwächen nicht übersehen: Henkels Ausführungen über seine Auslandsreisen, über Kunst oder über sein Hobby, das Segeln, sind belanglose Fremdkörper. Vor allem aber begründet er einen Teil seiner Attacken unzureichend. Er hat nicht einmal seinen zentralen, schon im Untertitel angesprochenen Begriff, das "Bürgertum", wirklich brauchbar definiert.
Zieht man diese Defizite ab, dann bleibt eine fulminante Attacke auf den massiv aufkommenden "Neosozialismus" und auf den Opportunismus der Politik. Den er auch bei den bürgerlichen Parteien scharf geißelt. Der FDP etwa hält er beinhart ihr wählerstimmenheischendes Eintreten für Pflichtmitgliedschaften in Kammern und für die (den Kunden teuer kommenden) Privilegien der Apotheker vor. Auch Kombattanten aus dem BDI, wie VW-Piech, bekommen ihr Fett ab. Das gleiche gilt für die Spitzengehälter deutscher Manager. Auch Helmut Kohl wird lächerlich gemacht ("Die Mauer scheint er fast im Alleingang zum Einsturz gebracht zu haben.") Und Angela Merkel - noch stärker deren Parteifreund Jürgen Rüttgers - bekommt eine Generalabrechnung für den Bruch ihrer Wahlversprechen und für ihren massiven Linksruck zu hören.
Der liberalkonservative Henkel (der sich selbst als Ordo- oder Neoliberaler im Sinne Ludwig Erhards bezeichnet) lässt keine Schlacht aus, um sich bei einzelnen Gruppen und Lobbies unbeliebt zu machen. Nur eine kleine Auswahl dessen, was seinen Zorn erregt, was ihn nach einer "zweiten Aufklärung" rufen lässt:
Hauptziel des Zorns:
Umverteilungs-Illusionen
Ein Hauptziel dieses Zorns ist die um sich greifende Sucht nach sozialstaatlichen Umverteilungs-Illusionen. "Statt Leistung einzumahnen, wie unsere Konkurrenten sie erbringen, wird Gerechtigkeit beschworen, die sich per Gesetzblatt erreichen lässt." Das könne nicht funktionieren, denn, so Henkel, "irgendwie fühlt sich jeder ungerecht behandelt", und jeder wolle letztlich zur Gruppe der Opfer gehören, denen der Staat Wohltaten erweist. An Hand konkreter Beispiele geißelt Henkel die Arbeitsunwilligkeit deutscher Langzeitarbeitsloser.
Geradezu emotional erregt sich der Chef der Leibniz-Gemeinschaft über die gezielten Verunglimpfungen von hochrangigen Wissenschaftern durch die deutschen Sozialdemokraten, etwa wenn sie den Ökonomen Hans-Werner Sinn als "Professor Unsinn" verächtlich machen, oder den Staatsrechtler Paul Kirchhof immer nur als den "Professor aus Heidelberg" ansprechen, ohne sich aber mit deren Sachaussagen auseinanderzusetzen.
Kontra Jürgen Habermas und Oskar Lafontaine
Ausführlich geht er mit der geistigen Erbschaft von Jürgen Habermas zu Gericht, die dazu geführt hat, "dass über die Massenverbrechen unter Lenin und Stalin so gut wie gar nicht gesprochen" wird, weil Habermas mit voller Wucht für die Unvergleichbarkeit der nationalsozialistischen Verbrechen gekämpft hat. Der von ihm angezettelte "Historikerstreit" um diese Frage sei aber keine wissenschaftliche Auseinandersetzung, sondern eine ideologische Kampfansage gewesen.
Henkel wirft Oskar Lafontaine und den Gewerkschaften Veränderungsunwillen vor, sind diese einst doch auch gegen die Einführung des Computers Sturm gelaufen.
Er protestiert dagegen, dass die deutsche Regierung die Gesamtausgabe der Marx-Engels-Werke finanziert, obwohl diese eigentlich schon wegen Antisemitismus den Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllten.
Er nennt dramatische Zahlen für den Aderlass, den Deutschland durch die Abwanderung hochqualifizierter Akademiker und Professoren in Länder mit niedrigeren Steuern und weniger Regulierung erleidet, während im Gegenzug nur schlecht ausgebildete Menschen, die Alimentierung suchen, nach Deutschland kommen.
Er erregt sich über die Aggressivität türkischer Immigranten.
Er reitet eine volle Attacke gegen das modische "Gender mainstreaming", das das biologische Geschlecht durch die Schaffung eines Einheitsmenschen ersetzen wolle.
Er ärgert sich intensiv über das - unter Angela Merkel eingeführte - Gleichstellungsgesetz.
Er attackierte die Merkel-Ministerin Ursula von der Leyen, weil sie die Familien ruinieren und - ein altes Marx-Postulat erfüllend - die Kinder dem Staat einverleiben wolle. - Und so weiter. Ob man ihm nun zustimmt oder nicht: Kreis-laufanregend ist Henkels Buch in jedem Fall.
Hans-Olaf Henkel: Der Kampf um die Mitte - Mein Bekenntnis zum Bürgertum. Droemer Verlag. 400 Seiten, 23,60 Euro