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Her mit der Abrissbirne

Von David Ignatius

Analysen
Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post".

Ob mit oder ohne Briten: Statt Krokodilstränen um die alte Fassung der EU zu weinen, sollten Politiker über Möglichkeiten des Wandels nachdenken.


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Man stelle sich eine junge Margaret Thatcher vor, eine Politikerin voll Misstrauen gegenüber dem politischen Establishment und voller Identifikation, aus dem Bauch heraus, mit dem Frust des Mittelstands. Das wird Britannien brauchen, wenn es nach dem Brexit-Referendum die Scherben aufklaubt. Die Freunde der Briten (und der anderen Europäer) müssen damit aufhören, die Unterstützung für einen Rückzug aus der EU bloß als Produkt eines fremdenfeindlichen rechten Nationalismus zu sehen. Die EU ist unbeliebt in Britannien, aus den gleichen Gründen wie in vielen anderen Teilen Europas, eingestuft als Projekt einer wirtschaftlichen und politischen Elite, die oft ohne Rücksicht auf die öffentliche Meinung handelt. Nationalismus mag ja ein besudeltes, rückständiges Gefühl sein, aber es bleibt die Tatsache, dass viele Menschen sich tief mit ihren Ländern verbunden fühlen. Dieses patriotische Empfinden kann man nicht auslöschen. Modernisiert sollte es werden. Und genau hier könnte eine moderne Maggie Wunder wirken.

Thatcher kam der verschanzten Elitenmeinung mit der Abrissbirne. Als sie 1979 Premierministerin wurde, war Großbritannien noch immer in ein Klassensystem gehüllt, das den konservativen Status quo
an beiden Enden aufrechthielt - auf der einen Seite die Macht der aristokratischen Tory-Elite, auf der anderen die Gewerkschaftsbosse der Labourpartei, die sich jeder Reform, die ihre Macht gefährdete, widersetzten. Thatcher, Tochter eines Kaufmanns, verachtete diese Zustände. Sie stand den harten Streik der Minenarbeiter 1983-84 durch, vor dem frühere Premierminister, Labour und Tory, zurückgeschreckt waren. Und sie deregulierte den Finanzsektor. In den letzten Jahren ist Großbritannien jedoch wieder zurückgefallen.

Der hoffnungsvollste Aspekt der Brexit-Debatte ist, dass die meisten jungen Briten europäisch eingestellt sind. Sie sind aufgewachsen mit einer globalen Wirtschaft, in der sich die Menschen von Job zu Job und von Land zu Land bewegen. Je älter die Briten werden, umso mehr misstrauen sie laut Umfragen der EU. Das ist die größte Gefahr der Pro-Brexit-Kampagne, abgesehen vom möglichen wirtschaftlichen Schaden, denn der Brexit würde die Zukunft des Landes vom Willen des ältesten, konservativsten Teils der Bevölkerung abhängig machen.

Die EU-Führung in Brüssel verdient ihren schlechten Ruf. Mangels Instrumenten wirklicher Regierungsgewalt stochern die Eurokraten mit Regeln und Regulierungen in den Randbereichen herum, ein gemeinsames Schicksal bestimmend. Die harten Fragen, wie Grenzsicherheit und Finanzdisziplin, bleiben aber den anderen. Deutschland sitzt voll Unbehagen an der Spitze dieses wackligen Unternehmens. In der EU hat der Prozess des Wandels erst begonnen. Ein ranghoher deutscher Regierungsbeamter sagte mir, dass EU-Einrichtungen sich ändern müssen, egal ob mit oder ohne Briten. Statt Krokodilstränen um die alte EU zu weinen, sollten modernisierungsfähige Politiker in Großbritannien und auf dem Kontinent lieber über Möglichkeiten des Wandels nachdenken. Holt die Abrissbirne.

Übersetzung: Hilde Weiss