Wirkliche Integration wurde viel zu lange vernachlässigt. | Differenziert fördern, nicht Unterschiede ignorieren. | Wien. Jahr für Jahr wandern tausende junge Menschen mit ihren Eltern in Österreich ein. Weder darf die Situation junger Menschen ohne ausreichende Kenntnisse der Unterrichtssprache Populisten für ihr Agitieren überlassen noch eine tatsächliche Integrationspolitik durch Pseudomaßnahmen verdrängt werden. Ignorieren wäre nämlich ebenso unverantwortlich wie populistisches Agitieren.
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Schülerinnen und Schüler mit nicht-deutscher Herkunftssprache sind bezüglich ihrer Anzahl schon lange keine Randgruppe mehr - mit großen Unterschieden zwischen den Bundesländern: Während bundesweit 13 Prozent an den Volksschulen eine nicht-deutsche Herkunftssprache aufwiesen, sind es in Wien nicht weniger als 44 Prozent. Dieser Anteil ist innerhalb eines Jahrzehnts um ein Drittel gestiegen und steigt weiter. Über alle Schularten, von der Volksschule bis zu den höheren Schulen, haben in Wien rund 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler nicht Deutsch als Herkunftssprache. Entscheidend ist aber nicht die Herkunftssprache, sondern die tatsächliche Kompetenz in Deutsch - und da schrillen die Alarmglocken: Rund 16 Prozent der Wiener Volksschüler sind der Unterrichtssprache so unkundig, dass sie als außerordentliche Schüler geführt werden müssen, weil sie dem Unterricht nicht folgen können.
Bildungschancen wurden reduziert bis ruiniert
Der Bevölkerung ist der Handlungsbedarf bewusst, über zwei Drittel bezeichnen die Tatsache "dass in einer Klasse alle Kinder die deutsche Sprache beherrschen" als Kennzeichen eines guten Schulsystems. Von der Politik aber wurde der Handlungsbedarf Jahrzehnte hindurch ignoriert, eine besondere Sprachförderung vor oder zumindest neben dem Besuch der Regelschule populistisch diskutiert oder tabuisiert, Bildungschancen wurden dadurch reduziert bis ruiniert. Tausende junge Menschen beenden jährlich ihre Schulpflicht, ohne für eine weitere Bildung oder die Arbeitswelt vorbereitet zu sein - ein hoher Preis, der für Sünden vergangener Jahrzehnte zu bezahlen ist, vom Einzelnen, aber auch von der Gesellschaft (Arbeitslosigkeit, Folgekriminalität …).
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rfreulicherweise werden jetzt mit den beiden Schulrechtspaketen konkrete Maßnahmen gesetzt: Die Anmeldung für die Volksschule wird vorgezogen, massive Defizite im Verständnis der Unterrichtssprache können damit schon vor dem Schuleintritt festgestellt, eine sprachliche Förderung wird im letzten Jahr vor der Schulpflicht angeboten. Zusätzlich erhalten Volksschülerinnen und -schüler mit gravierenden Sprachdefiziten, sofern das Schulrechtspaket 2 durch den Bundesrat nicht weiter verschleppt wird, bereits ab Herbst 2006 elf Stunden pro Woche gezielte Sprachförderung in Kleingruppen an Stelle des Regelunterrichts.
Diese Maßnahmen sind ein Durchbruch, stellen aber noch keinen umfassenden Maßnahmenkatalog dar: Auch Schulkinder jenseits des zehnten Geburtstags, die von gravierenden Sprachdefiziten beim Bildungserwerb behindert, ja an ihm gehindert werden, benötigen Hilfestellungen. Derzeit geraten sehr viele Kinder aus Immigrantenfamilien in eine Sackgasse und beenden ihren Bildungsweg mit 15 statt eine Berufsschule oder eine mittlere oder höhere Schule besuchen zu können. Fast die Hälfte der Jugendlichen der zweiten Einwanderergeneration besucht nur die Pflichtschule, um anschließend zu jobben oder beschäftigungslos zu sein, zwei Drittel der 15- bis 35-jährigen in Österreich lebenden Türken können nur Hilfsarbeiten anbieten.
Finnland in diesem Punkt kein Vorbild
Wirkliche Integration wurde viel zu lange vernachlässigt oder zumindest mit untauglichen Mitteln betrieben, musste scheitern und ist mit einem glatten "Nicht genügend" zu beurteilen! Dies gilt nicht nur für Österreich, sondern auch für den angeblichen "Pisa-Sieger" Finnland, bloß dass die Anzahl der betroffenen Kinder in Finnland verschwindend klein ist: Während fast neun Prozent der österreichischen Schüler zu Hause nicht die Unterrichtssprache sprechen, sind es in Finnland nicht einmal zwei Prozent. Diese wenigen Schüler bleiben in Finnlands Schulsystem übrigens noch viel weiter zurück, als dies in Österreich der Fall ist.
Benötigt wird eine aktive Integrationspolitik mit Maßnahmen, die den Defiziten der Einzelnen zielgerichtet und umfassend gerecht werden, auch wenn sie Ressourcen erfordern. Es ist dies zunächst ein Gebot der Fairness gegenüber dem betroffenen Individuum, das nicht länger um seine Bildungschancen gebracht werden darf. Eine gezielte Kompensatorik liegt aber ebenso wie eine gezielte Förderung von Begabungen auch im Interesse des gesamten Bildungswesens, wenn es hohen Qualitätsansprüchen gerecht werden will. Ökonomisch wird es sich Österreich letztlich nicht leisten können, dass einer enorm großen Gruppe die Bildung vorenthalten wird, die für ein Bestehen auf dem Arbeitsmarkt dringender denn je erforderlich ist.
Menschen Herberge zu gewähren, aber zuzusehen, wie sie in der Herberge geistig verhungern, ist weder der Weisheit noch der Menschlichkeit letzter Schluss und geht mit der Zukunft Österreichs sorglos um. Völkerwanderungen waren im Lauf der Geschichte immer wieder Anlass für Hass, Leid und Krieg. Am Beginn des dritten Jahrtausends sollten wir andere Formen des Umgangs mit Migration gelernt haben und sie mit Herz und Hirn praktizieren! *