Zum Hauptinhalt springen

Herde ohne Hirten

Von Andreas Kirschhofer-Bozenhardt

Gastkommentare
Andreas Kirschhofer-Bozenhardt war Journalist in Linz, ehe er 1964 in die empirische Sozialforschung wechselte. Er war Mitarbeiter am Institut für Demoskopie Allensbach und zählte dort zum Führungskreis um Professor Elisabeth Noelle-Neumann. Ab 1972 baute er das Institut für Markt- und Sozialanalysen (Imas) in Linz auf.
© privat

Die Säkularisierung greift um sich, die Religion verdunstet und verflüchtigt sich. Das hat Folgen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Vorweihnacht in der Nachkriegszeit: Welt der Groß- und Urgroßeltern; halb zerbombte Städte, Schutthalden, Ruinen kalte, schneereiche Winter; mühsames Beheizen der Eisen- oder Kachelöfen; Schleppen von Kohle, Holz und Ascheneimern; engstes Zusammenwohnen von manchmal drei Generationen in einem Haushalt; kaum Motorisierung, auf den Straßen vorwiegend Jeeps und Wagen der Besatzungstruppen; auf den überfüllten Gehwegen Menschen in abgetragenen Kleidern, dazwischen junge, zu Krüppeln geschossene Männer auf Krücken; karg beleuchtete Schaufenster; Frauen, die ihre Einkäufe in großen Taschen oder auf Kinderwagen nach Hause schleppen - und dennoch festliche Vorfreude auf den Heiligen Abend; Kinderbriefe ans Christkind, weihnachtliche Lieder; und volle Kirchen, Gebete.

Die Kirchen sind inzwischen leer. Was bedeutet das? Wie wichtig ist die Bewahrung des christlichen Glaubens für unsere soziale Existenz? Die rapid fortschreitende Säkularisierung, wie sie jüngst in der angesehenen "Welt" beschrieben wurde, lässt schaudern. In Deutschland sind die christlichen Kirchen offenkundig konkursreif. Kennzeichnende Merkmale dafür sind massive Austritte, eine starke Überalterung des Klerus, fehlender Nachwuchs, dadurch ein akuter Mangel an Priestern.

Nur noch die Hälfte von rund 50.000 Kirchengebäuden sind mit religiösen Handlungen ausgelastet, die anderen als soziale Ruinen unbelebt. Kirchliche Gemeindehäuser müssen vielfach abgerissen oder in Wohnhäuser umgewandelt werden. In den verbliebenen Kirchen finden nicht mehr ausschließlich christliche Feiern statt. Ein Ende droht überdies der geistlichen Musik infolge der Auflösung unzähliger Chöre und Instrumentalensembles. Besonders schwer wiegt der Verlust des Bibelwissens durch die Umwandlung des Religionsunterrichts in ein Wahlfach.

In Österreich ist der Niedergang vielleicht noch nicht ganz so weit, aber absehbar. Auch bei uns werden vor den leeren Kirchenbänken in absehbarer Zukunft keine Priester mehr stehen. Auch hierzulande wird man überlegen müssen, wer die sakralen Bauten, in denen sich die christlichen Denktraditionen manifestieren, in Pflege nehmen wird.

Inquisition der Quasi-Progessiven

Aus demoskopischer Sicht handelt es sich bei der Säkularisierung um keine bewusste oder gar feindselige Abkehr der Bevölkerung von den Glaubensinhalten. Eher haben wir es mit einem Verdunsten und Verflüchtigen der Religion zu tun. Dieser Prozess wird begleitet von der Neigung sogenannter Progressiver, sich als agnostisch oder konfessionslos zu bespiegeln. Das Christentum wird Schritt für Schritt in die Nähe des Aberglaubens gerückt. Viele der Quasi-Progressiven reden dabei von Aufklärung, betreiben selbst aber Inquisition.

Für die Gläubigen ist es dennoch tröstlich, sich im Bekenntnis zum Christentum in einer zwar arg geschrumpften, aber achtbaren Gesellschaft fühlen zu dürfen. Zu ihr zählen unter anderen der Quantenphysiker Anton Zeilinger, der Arzt und Genetiker Johannes Huber und der Spitzenjurist Ludwig Adamovich, der unlängst gegenüber der "Wiener Zeitung" seine Hoffnung auf den Fortbestand Österreichs als christliches Land unterstrichen hat. Alle diese Persönlichkeiten glauben fest an einen Weltbaumeister und betrachten auch die Evolution als eine Schöpfung Gottes. Adamovich wertet überdies das moralische Gewissen als Gottesbeweis.

Eine Insolvenz der beiden christlichen Kirchen als Körperschaft müsste nicht weiter stören, denn als Institution bedeuten sie wenig. Auf einem anderen Blatt steht allerdings die Rückwirkung der Säkularisierung auf unser geschichtliches und kulturelles Selbstverständnis. Dazu gesellt sich das Problem des mentalen Wohlbefindens. Welche Gefühle, fragt man sich bei alledem, werden die nachkommenden Generationen haben, wenn sie Albrecht Dürers "Betende Hände" oder Leonardo da Vincis "Letztes Abendmahl" betrachten? Was werden sie empfinden, wenn sie Ludwig van Beethovens "Missa solemnis", Wolfgang Amadeus Mozarts "Gloria in excelsis deo" oder Johann Sebastian Bachs "Jesus bleibt meine Freude" hören? Welches Schicksal ist dem schlichten Lied "Stille Nacht, heilige Nacht" beschieden, das Menschen gerade in den tristesten Zeiten mit großer innerer Bewegung sangen? All diese optischen oder akustischen Erlebnisse könnten ihre magischen Reize nicht entfalten, würde sich mit ihrer Wahrnehmung nicht auch ein Gefühl religiöser Ehrfurcht verbinden.

Gesellschaftspolitische Bedeutung der Religiosität

Das Glauben an die christliche Lehre ist angesichts der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und neo-darwinistischen Evolutionstheorien für viele Menschen nicht gerade einfacher geworden. Dies ändert nichts daran, dass neuere Forschungen in der Religiosität ein Wesensmerkmal entdeckt haben, das über das persönliche, individuelle Seelenheil hinaus auch eine gesellschaftspolitische Bedeutung besitzt. Die deutsche Empirikerin Renate Köcher lieferte dazu, gestützt auf Befunde des Instituts für Demoskopie Allensbach, handfeste Nachweise. Die Quintessenz ihrer Studie: Wo Religion und Kirche stark sind, dort existieren in der Gesellschaft rigidere Moralvorstellungen und ein generell festeres Normengefüge. Wo Religion und Kirche schwach sind, gedeihen hingegen Egozentrismus und Hedonismus, wird individuelle Autonomie zum überragenden Ziel.

Es würde zu weit führen, all das auszubreiten, was die Kirche selbst zu ihrem Niedergang und zur Säkularisierung beigetragen hat. Ihr Versagen hat sich auf einer breiten Ebene vollzogen. Der schwerste Vorwurf lautet: Die Kleriker kuschen aus Feigheit vor dem Zeitgeist und missionieren nicht mehr. Sie kümmern sich nicht mehr um die Botschaft Jesu. Sie legen, wie es die beiden deutschen Bischöfe Reinhard Marx und Heinrich Bedford-Strohm getan haben, unverzüglich das Kreuz ab, wenn sie beim Besuch einer Moschee dazu aufgefordert werden. Ihre Verkündigung ist gegenwärtig die Einhaltung des Ein-Meter-Abstands.

Politische Parteien im Kraftfeld der Säkularisierung

Ach ja, dann wäre da noch die Rolle der politischen Parteien im Kraftfeld der Säkularisierung. Prädestiniert zur Verteidigung des christlichen Glaubens ist eigentlich die ÖVP, denn die erklärte Nähe zum Christentum war ursprünglich ein fester Bestandteil ihres Markenkerns. In der jüngeren Vergangenheit hat man von dieser Nähe allerdings wenig bemerkt. Erst Sebastian Kurz scheint seine Partei wieder stärker auf einen christlich-sozialen und sozial-marktwirtschaftlichen Weg zurückzuführen.

Unterschätzt wurde von der ÖVP und den anderen bürgerlichen Parteien, dass die christliche Gesinnung über Jahrhunderte hinweg auch einen sozialen Kitt darstellte, der die unterschiedlichen Segmente der Bevölkerung zusammenhielt. Dieses Bindemittel ist im Zuge der Säkularisierung verloren gegangen. Insofern ergab die Initiative von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka, die Parlamentarier zu einer gemeinsamen adventlichen Gebetsstunde einzuladen, auch unter gesellschaftspolitischen Aspekten Sinn. "Gerade in Zeiten der Krise kann christlicher Glaube für viele Menschen als Orientierungs- und Kraftquelle dienen", hieß es in der Einladung. Es ist bemerkenswert, dass ein solcher Satz vom Katheder des Parlaments, nicht aber von der Kirchenkanzel her verkündet wurde.