Der Musiker und Musikwissenschafter Herwig Knaus berichtet über seine jüngsten Forschungsergebnisse, die das Leben des Komponisten Alban Berg in neuem Licht zeigen.
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"Wiener Zeitung":Herr Professor Knaus, Sie haben sechs Jahre lang in detektivisch-archäologischer Mission verbracht. Suchort war die Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Welchen Schatz haben Sie dort gefunden und letztlich auch geborgen?Herwig Knaus: Es handelt sich um den Bestand "F21 Berg 480". Hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich hochbrisantes biografisches Material. Authentisch! Es stammt direkt aus der Feder des Komponisten Alban Berg: Briefentwürfe und Notizen auf Schmierzetteln, alten Kalenderblättern, halb zerrissenen Reklamesendungen oder gebrauchten Briefkuverts. Diese Lebensspuren des Schönberg-Schülers aus den Jahren 1890 bis knapp vor dem Zweiten Weltkrieg, bisher weitgehend ungeordnete Konvolute in drei Riesenschachteln mit über 1000 Papieren, habe ich transkribiert und publiziert.
Wieso transkribiert?
Die Manuskripte bedurften der Entzifferung. Berg schrieb in einer sehr schwer lesbaren Mischung aus Kurrentschrift, die er in der Schule gelernt hatte, und Lateinschrift. Er verwendete zehn verschiedene Zeichen für die Buchstaben D oder T. Es ist dabei aber kein System auszumachen. Mit der Zeit bekam ich ein Gefühl dafür, ob ein Zeichen ein G, ein H oder K sein soll. Psychologisch betrachtet ergibt sich: Je bedrängter sich Alban Berg fühlte, desto chaotischer fielen seine Schriftzeichen aus.
Wieso blieb dieser Schatz so lange ungehoben? Nur, weil ihn keiner lesen konnte?
Einerseits deshalb - andererseits auch, weil die Berg-Stiftung gegen eine "Bergung" war!
Was können Sie über den Inhalt der Berg´schen Konzepte verraten?
Es zeigen sich hochinteressante Beziehungslinien, aber auch die Zeitumstände werden intensiv ausgeleuchtet. Ich fand Korrespondenzentwürfe an seinen verehrten Lehrer Arnold Schönberg, an den von ihm anscheinend doch sehr geschätzten Richard Strauss, auch an Hans Pfitzner und Alma Mahler. Außerdem sehr private, höchstpersönliche Erledigungen, wie Versicherungsangelegenheiten nach einem Autounfall, Einkaufslisten, Bummerl- und Schnapspunkte aus einem Kartenspiel von Alban Berg mit Peter Altenberg waren darunter.
In dem kürzlich publizierten Buch, das auf Ihren Forschungsarbeiten basiert, soll ja auch eine biografische Bombe versteckt sein.
Ja, das kann man wohl sagen. Berg hat an seine Ehefrau Helene, die Tochter Kaiser Franz Josephs aus dessen außerehelicher Verbindung mit Anna Nahowski, zeitlebens liebevolle, ja zärtliche Briefe geschrieben. Er war jedoch eine gespaltene Persönlichkeit. Die Doppelbödigkeit, die in seiner Oper "Lulu" thematisiert wird, war ihm persönlich durchaus nicht fremd. Parallel zu seiner Ehe unterhielt er geheime Liebesverhältnisse, beispielsweise mit Hanna Fuchs, der - ebenfalls verheirateten - Schwester des Dichters Franz Werfel. Diese Liaison war in der Bergforschung, auch wegen der Konnotationen zur "Lyrischen Suite", bekannt. Jetzt sind zwei weitere Geliebte des Komponisten durch Briefe "verraten" worden: die Berliner Schauspielerin Edith Edwards und Anny Askenase, die Ehefrau des polnischen Pianisten Stefan Askenase.
Wie konnten so intime Aufzeichnungen in die Nationalbibliothek gelangen, wo Alban Berg doch bemüht war, sein Liebesleben geheim zu halten?
Berg hatte die Manuskripte aufgehoben, seine Frau Helene übergab sie nach seinem Tod, freilich zensiert, der Nationalbibliothek. Verständlicherweise wollte Helene Berg verhindern, dass private "Unebenheiten" in der Biografie ihres Ehemannes, wie zum Beispiel die Existenz seiner vorehelichen Tochter Albine, bekannt würden. Daher gaben die bisher zugänglichen Quellen immer nur einen von Helene gelenkten Blick auf Alban Berg frei! Seine wahre Biografie blieb im Dunkeln.
Aber Helene Berg wird doch nicht Liebesbriefe ihrer Nebenbuhlerinnen, wie der genannten beiden Damen, an die Bibliothek gegeben haben?
Nein, da haben Sie recht. Die Liebesbriefe an Askenase und Edwards sind anscheinend von diesen bzw. deren Erben verkauft worden, sie stammen aus dem Bestand von Antiquariaten. Das sind in diesem Fall auch wirklich die Originale, keine Konzepte! Die Briefe an Edwards und zwei an Anny hat die Musiksammlung der Nationalbibliothek allerdings angekauft.
Sie haben bereits drei wissenschaftliche Bände, und nun ein biografsches Buch über diesen Berg´schen "Fund" publiziert. Ist es denn legitim, all das Intime, Private, das nie für die Veröffentlichung gedacht war, in Buchform herauszubringen?
Ja! Es handelt sich im Fall von Alban Berg nicht um einen Normalsterblichen, sondern um ein Genie. Stellen Sie sich vor, wir stießen auf Ähnliches aus der Feder von Mozart oder Beethoven. Die Biografien dieser Künstler müssten neu oder wenigstens umgeschrieben werden.
Was hat sich in Bezug auf das Verhältnis zu Bergs Lehrer Schönberg Neues ergeben?
Vor allem aus den Briefen enger Familienmitglieder - von seiner Schwester Smaragda, von seiner Mutter oder von seinen Brüdern - geht hervor, in welch belastendem Abhängigkeitsverhältnis Alban Berg - bei aller Bewunderung und Wertschätzung, die er Schönberg entgegenbrachte - seinem Lehrer und Mentor letztlich gegenüber stand. Berg bemühte sich jahrelang devot um Schönbergs Gunst.
Hat Berg alle seine Kompositionspläne umgesetzt?
Nein. Als Jugendlicher plante er beispielsweise eine Symphonische Dichtung nach Adalbert Stifters "Hagestolz", oder eine der Pastorale nachempfundene "Ossiachersee-Symphonie". Konzept- aufzeichnungen dazu lagen in den Schachteln!
War sich Berg seiner Bedeutung als zeitgenössischer Komponist bewusst?
Ja. Nach seinen Erfolgen 1923 in Berlin (Orchesterstücke op. 6), in Salzburg (Streichquartett op. 3) und seinem großen Erfolg mit den "Wozzeck"-Bruchstücken 1924 in Frankfurt und der Aufführung des "Wozzeck" 1925 in Berlin war er sich seines Stellenwertes durchaus bewusst. Der große Durchbruch gelang vier Jahre später mit der Aufführung des "Wozzeck" in der "kleinen" Oper in Oldenburg. Jetzt war klar, dass dieses Werk auch von einem Provinzopernhaus erfolgreich aufgeführt werden konnte.
Ein Schock für Berg war wohl das berühmt gewordene Skandalkonzert vom März 1913, in dem es zu tumultartigen Szenen kam. Bergs Jugendfreund Hermann Watznauer war dmals dabei -
- und hat noch am selben Abend an Berg geschrieben: "Mein Lieber! Deine zwei Lieder sind das Beste, was ich von Dir gehört - ich war so erschüttert, dass mir der Pöbel wie erlösend vorkam. - Ja! So müsste es sein! Nun erst begreife ich Dich ganz . . . Aber das Aufregende - ich saß mittendrin im 4 Kronen Gesindel gebrüllt hab ich wie ein Stier! Vor mir - leider getrennt durch eine Sitzreihe - saßen die 3 Juden - die Loos so angebrüllt hat - Charley war wie ein Held! ... Nie - im Leben hab´ ich so etwas Aufregendes mitgemacht ..." Sie sehen, sein Jugendfreund nahm das fast sportlich!
Trifft auch auf den Künstler Alban Berg zu, dass man Werk und Person vollkommen getrennt beurteilen muss?
Jein. Er war nicht nur privat vielschichtig, sondern auch beruflich sehr geschickt im Lavieren, er hatte Intrigen zu überstehen, vor allem machte ihm in den Dreißigerjahren zu schaffen, dass man ihn für einen Juden hielt.
Wieso?
Er wird ja bis heute oft mit dem tatsächlich jüdischen Kabarettisten Armin Berg verwechselt! Ich werde Ihnen ein Beispiel geben: An die Redaktion der "Allgemeinen Musikzeitung" in Berlin Schöneburg schrieb Berg:
"Euer Wohlgeboren ... nennen in Ihrem Artikel Wiener Musikdämmerung ... Joseph Martin Hauer, einer der beiden Atonalisten arischen Blutes unter den sonst ausnahmslos jüdischen Schönbergianern ... Daraus ist zu entnehmen, dass Sie mich für einen Juden halten. Wenn dies auch sehr schmeichelhaft für mich ist, muss ich doch konstatieren, dass ... es Ihnen, - bei allem Scharfblick in der Unterscheidung von mischpochalen und Arischgesichtern... nicht gelingen wird, mir und meinen Ahnen auch nur einen Tropfen semitischen Blutes nachzu-weisen Hochachtungsvoll."
Berg konnte, auch in unangenehmen Situationen, durchaus witzig und zynisch sein.
Er war also nicht nur mit Tönen, sondern auch mit Worten sehr treffsicher! Welche anderen Charaktereigenschaften lassen sich aus den persönlichen Schriftstücken ablesen?
Beispielsweise Stolz. Ein Briefentwurf aus seinem Todesjahr, 1935, an das Ministerium für Unterricht und Kultur gerichtet, das ihm den Professorentitel verleihen wollte, zeigt das. Berg wollte "zu Bedenken geben, dass von hunderten, ja tausenden von Musikern und sich mit Musik beschäftigenden... ich so ziemlich der letzte zum Professor ernannt sein würde. Und zwar nachdem seit Jahren Orchestermusiker, Klavierlehrerinnen, ausgediente Sänger und Sängerinnen, musikschriftstellende Journalisten . . . Beamte, soweit sie nicht schon Regierungs- oder Hofräte sind, dieses Titels teilhaftig wurden (mit Recht teilhaftig wurden). In Anbetracht dessen, bitte ich für meine Person von einer Verleihung, die vor 20 Jahren ehrenvoll gewesen wäre, vor 10 Jahren die Erfüllung einer Ehrenpflicht(?), heute aber fast eine Ehrenbeleidigung bedeutet, absehen zu wollen."
Konnte er sich solche "kecken" Briefe leisten, wo er doch in Deutschland nicht mehr aufgeführt wurde? Wie stand es um seine Finanzen? Hat die Inflation seinen Lebensstil beeinflusst?
Vor dem Ersten Weltkrieg muss Berg als wohlhabend gegolten haben. Aus einem Brief von 1914 ergibt sich ein Bild vom gutbürgerlichen Lebensstandard des Jung-Komponisten. Der Steuerbehörde, die argwöhnte, er hätte zu wenig Einnahmen angegeben, schrieb er erläuternd: "Johanna Berg (die Mutter, Anm.) gewährt mir freiwillig von Fall zu Fall Geld ... Außerdem lebe ich im Sommer, d.i. mindestens 3 Monate des Jahres auf den Besitzungen meiner Mutter, Berghof am Ossiachersee oder auf der Besitzung meines Schwiegervaters in der Steiermark ... in welcher Zeit ich also gar keine Ausgaben habe."
Die Finanzen des Ehepaares Berg basierten ein Leben lang auch auf geerbtem Vermögen. Die Nachkriegs- und Inflationszeit überstanden Alban und Helene dank einer weiteren Erbschaft nach dem Tod von Albans Bruder Hermann, der in den USA gelebt hatte, gut.
Bergs Lebensstil war durch Helenes sparsames Wirtschaften gutbürgerlich limitiert. War gerade genug Geld vorhanden, konnte er sogar ein wenig luxuriös leben, was seinen Anlagen entgegenkam. Er kaufte sich ein fashionables Ford-Cabrio! In Notzeiten wie Krieg, Nachkriegszeit oder nach 1934 war es Helenes Fürsorge zuzuschreiben, dass beide gut über die Runden kamen.
Berg lebte in einer Zeit, in der es politisch bereits heftig brodelte. Wie hat er als Künstler, abgesehen davon, dass man ihn fälschlicherweise für einen Juden hielt, die heraufdämmernde NS-Zeit gespürt? Wie war seine politische Einstellung?
Seine politische Einstellung war am ehesten die eines Sozialdemokraten. Als solcher wurde er auch von seinem Bruder Charley in einem Brief abwertend bezeichnet. Politik spürte er am eigenen Leib, denn die Jahre nach der Machtübernahme Hitlers waren für ihn vor allem durch Geldsorgen stark getrübt, da in Deutschland ein Aufführungsverbot für seine Werke bestand. Berg war aufgrund seines Verhältnisses zum Schönbergkreis automatisch als nicht arisch abgestempelt.
Was hat sich denn aus Ihren Nachlass-Sichtungen in Bezug auf Alban Bergs Schwester Smaragda Neues ergeben?
Ihr durch Homoerotik geprägtes Leben spielt in fast allen aufgefundenen Belegen eine Rolle. Sie verliebte sich sogar in ihre eigene Schwägerin, Bergs Ehefrau Helene, wie ein sehr erotisch gefärbter Liebesbrief beweist. Smaragda war ein starker Charakter, sie verfügte über einen sehr lebendigen und klarsichtigen Geist und über vielfältige künstlerische Ambitionen. Es bestand eine sehr enge, nicht immer unproblematische Bindung an Alban.
Wie groß war der Einfluss seiner Ehefrau Helene auf Alban?
Anscheinend sehr groß, vor allem sein Respekt vor ihr.
Wie verhielt sich Berg in familiären Krisen? War er konfliktscheu?
Er vertrat seine Ansichten auch in der engsten Verwandtschaft stets mit Nachdruck. Sein Hauptanliegen war, seine Mutter möglichst aus solchen Konflikten herauszuhalten. Mit seinen Geschwistern redete er meist Klartext.
Bergs Verhältnis zu seiner Schwiegermutter, Anna Nahowski, war übrigens so gut, dass sie just ihm ihre geheimen Tagebücher, welche die Beziehung zu Kaiser Franz Joseph I schildern, übergab.
Welcher Typ Briefschreiber war Berg? War er überlegt oder spontan? Weiß man, wie sich die Entwürfe von den endgültig abgeschickten Briefen unterschieden haben?
Berg hat spontane Briefe und Liebesbriefe wohl nicht aufgesetzt. Aber die meisten Briefe, deren Aussage und Inhalt ihm Schwierigkeiten bereiten konnten, liegen - soweit sie erhalten sind - in Entwürfen vor. Diese unterscheiden sich teilweise stark von den ausformulierten abgesandten - diese sind überlegter, glatter und verbindlicher.
Berg war auch dem Publikum gegenüber nicht auf den Mund gefallen. Manch einem Autogrammjäger zeigte er - mehr oder weniger versteckt - dass ihn dieses "Fantum" nervte.
Speziell bei der Beantwortung von Autogrammwünschen bewies Alban Berg häufig Witz und Humor. Oft kam auch seine Doppelbödigkeit zum Vorschein. Meist entnahm er Zitate seinem "Wozzeck", nicht immer klärte er die Empfänger über den genauen Inhalt der Notenzitate auf. Manchmal nützte er auch die Chance, Wörter mit Tonnamen zu chiffrieren. So beantwortete er im April 1930 den Autogrammwunsch eines "Reichenfalter Karl" mit "Das ist traurig". Otto Görner, einem Musiker, antwortete er vielsagend mit einem Zitat aus dem dritten Akt des "Wozzeck": "Es holt euch doch alle noch der Teufel", fügte handschriftlich dann aber hinzu: "Nichts für ungut! Alban Berg". Der Aufforderung, er würde "dreien Wienerinnen mit Ihrem geschätzten Autogramm eine große Freude bereiten . . .", antwortete er im Mai 1930 mit "Was der Kerl für ein Gesicht macht" und "Der Mann muss saufen".
Geradezu harmlos familiär reagierte er auf die Anfrage von Franz Pietschmann, den er sozusagen mit seinem Vornamen anspricht: "Guten Tag, Franz", Josef Haas erhielt seinen Familiennamen (h-a-a-es) als Notenzitat zurück. Ein Notenzitat bekam auch eine Dame. Bei ihr wurde er aber geradezu unhöflich: Erna Katz konnte sich ihre Widmung aus den folgenden Tonbuchstaben zusammenreimen: es-c-h-eis-es-e.
Zur Person
Herwig Knaus wurde 1929 in St. Veit/Glan geboren und lebt seit 1948 in Wien. Er studierte Musik an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien (Komposition, Klavier, Flöte, Tuba, Chor- und Orchesterleitung), außerdem Musik- wissenschaft und Germanistik an der Universität Wien. Danach war er als Kapellmeister und Komponist an Wiener Kleinbühnen und am Theater in der Josefstadt tätig.
Herwig Knaus lehrte außerdem Musikwissenschaften an der Universität Wien und am Konservatorium der Stadt Wien und war Inspektor für Musikerziehung des Wiener Stadtschulrates. Er ist Autor zahlreicher kultur- und musikhistorischer, sowie musikwissenschaftlicher Bücher, u.a. über Franz Schubert, Robert Schumann, Johann Strauß.
Sein neuestes Buch, "Alban Berg, Zeitumstände - Lebenslinien", erschien kürzlich im Residenzverlag.
Darin wird wissenschaftlich recherchiertes Material verwendet, aber auf Musikanalysen verzichtet. Deshalb ist das Werk gut geeignet, Alban Berg, den berühmten Komponisten der zweiten Wiener Schule, auch musikalischen Laien "privat" näherzubringen.
Michaela Schlögl, geboren 1960, lebt als freie Kulturjournalistin und Sachbuchautorin in Wien.