· Ohne mit der Wimper zu zucken, liest Robert Menard die Depesche, die man ihm auf den Schreibtisch gelegt hat. Wieder mal hat man einen Journalisten ermordet, wieder mal in Kolumbien. | Für Menard ist das trauriger Alltag. Denn als Vorsitzender der Pariser Journalisten-Organisation "Reporter ohne Grenzen" (Reporters Sans Frontieres, RSF) kämpft er weltweit für das freie Wort.
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Den kolumbianische TV- und Radioreporter Jaime Garzon haben seine Beiträge über den Krieg zwischen Regierung und Guerilla das Leben gekostet. Damit ist einer von 20 Berichterstattern, die
allein dieses Jahr umgebracht worden sind · nur weil sie berichtet haben über Bürgerkriege, Bestechungsaffären, Wahlbetrug.
Kampf für die Pressefreiheit
Aber auch wenn Menard einen Protestbrief zum Mord an Garzon aufsetzen lässt: "Wir sind keine Organisation zur Verteidigung von Journalisten. Wir kämpfen für die Pressefreiheit überhaupt", betont
der RSF-Chef.
Damit unterscheidet sich die heutige Arbeit der Organisation von ihren Anfängen: Menard, damals Regional-Korrespondent beim staatlichen französischen Rundfunk, gründete 1985 "Reporter ohne Grenzen",
"weil wir die Schattenseiten der Medien-Berichterstattung aufhellen wollten". Also schrieben er und seine Kollegen Hunderte von Artikeln über Themen, die die traditionellen Medien
vernachlässigt hatten.
Bald erkannte RSF: nicht Geldmangel oder die Borniertheit hiesiger Redaktionen, sondern vor allem staatliche Drangsalierungen in vielen Ländern verhinderten, dass bestimmte Themen ans Licht der
Öffentlichkeit finden. Seitdem tritt RSF mit seinen sechs Auslands-Vertretungen vor allem für die Pressefreiheit ein.
Gegen Tötungsaufrufe in Ruanda
Dass das mitunter bedeutet, sich gegen die Arbeit von Journalisten zu wenden, beweist der Fall Ruanda: "Dort haben Radiosprecher Namenslisten verlesen und dazu aufgerufen, diese Menschen zu
töten." RSF hat mit seinen Recherchen ermöglicht, dass diese "Journalisten" vor Gericht gestellt werden konnten. Den Vorwurf, den sich so viele Nicht-Regierungsorganisationen aus den Industrie-
Staaten anhören lassen müssen, wonach sie nur die Probleme im Süden anprangern, jedoch nicht vor der eigenen Haustüre kehren, kennt auch Menard zu genüge.
Seine Antwort darauf ist differenziert: "Einerseits wird niemand abstreiten, dass die Pressefreiheit in Frankreich oder Deutschland weitaus größer ist als in Algerien oder China. Andererseits
berichten wir sehr wohl über die Einäugigkeit westlicher Medien." So veröffentlichte RSF zum Kosovo-Krieg neben dem Bericht über die Propaganda-Politik von Milosevic einen weiteren über die
Informations-Kampagnen der NATO.
Subtile Einschränkungen in Industrieländern
Dennoch: Bei der Lektüre des RSF-Jahresberichtes, fällt auf, dass die Organisation zwar die Journalistenhatz in Krisengebieten minutiös protokolliert. Kaum ein Wort aber findet sich über subtilere
Einschränkungen der Pressefreiheit in Industrieländern, etwa Konzentrations-Prozesse oder Interessens-Verflechtungen von Konzernen, die neben Rüstungs- und Reiseunternehmen auch Zeitungen besitzen.
Neben dem Abfassen von Berichten und Protestbriefen leistet "Reporters Sans Frontieres" auch ganz konkrete Hilfe: Rund 50 Kredite in Höhe von je 1000 Dollar (937 Euro/12.893 Schilling) stehen
jährlich für Journalisten zur Verfügung, die sich vor Gericht verantworten müssen, ins Gefängnis gesteckt oder misshandelt wurden, sowie für unabhängige Medien, die Geld für wichtige
Recherchen brauchen. Finanziert wird all dies durch die EU-Kommission, die neben dem Verkauf von Publikationen die wichtigste Einnahmequelle für RSF darstellt.
Was erreicht RSF mit seiner Arbeit? Mitte der neunziger Jahre kamen jährlich noch rund 50 Journalisten auf Grund ihrer Arbeit um, heute hat sich diese Zahl mehr als halbiert. Auch wenn der RSF-Anteil
an dem Trend schwer zu beziffern ist · Menard sieht weltweit die Pressefreiheit auf dem Vormarsch.
Internet schränkt die Zensur ein
Ein großer Verdienst komme dabei dem Internet zu: So habe man zum Beispiel die algerische Zeitung "Nation" nach Eingriffen der Zensurbehörde einfach auf einer RSF-Website übertragen.
Chinesische Dissidenten können per E-Mail mit westlichen Medien kommunizieren und somit die staatlichen Zensoren austricksen. Und selbst wenn, wie RSF gerade in einem Bericht dokumentiert hat, manche
Regierungen regimekritische Internet-Nutzer drangsalieren: "Die Zeiten der totalen Zensur", so Menard, "die sind vorbei."