Der Holocaust ist für die Identität nicht mehr so wichtig, Israel aber schon.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien. Vor 100 Jahren hatten Europas Juden sehr unterschiedliche Vorstellungen von ihrer jüdischen Identität. Doch dann kam der Holocaust. Er wurde lange Zeit zu ihrem dominierenden Bezugspunkt in Europa, meint die in Paris lebende jüdische Historikerin und Schriftstellerin Diana Pinto. Nun sei diese Zeit aber vorbei, lautet Pintos These. Dienstagabend sprach sie im Bruno Kreisky Forum über das Wiedererstehen des europäischen Judentums nach Ende des Kalten Kriegs.
Die jetzige Lage des europäischen Judentums sieht Pinto allgemein erfreulich: "Eine positive jüdische Identität entwickelt sich hier, man ist nicht mehr auf den Holocaust fixiert", meint sie gegenüber der "Wiener Zeitung". Vor allem mit der Gedenkveranstaltung zum sechzigsten Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz-Birkenau sei diese Phase zu Ende gegangen. Während noch zum 50-Jahr-Jubiläum der damalige polnische Präsident Lech Walesa primär über die "polnischen Märtyrer" gesprochen hat, sei bei der Zeremonie im Jahr 2005 Auschwitz klar als Symbol für die Vernichtung der Juden anerkannt worden.
"Gerade jüdische Jugendliche interessieren sich heute viel mehr für jüdische Kultur und Philosophie. Es gibt ein Interesse am Judentum, und zwar nicht nur weil es den Holocaust gab." Auch eine neue Hinwendung zur Religion beobachtet Pinto bei der Jugend: "Ich selber bin nicht religiös, aber ich respektiere das." Hier biete das heutige Europa eine besondere Chance: "Die Trennung von Religion und Staat in Europa gibt uns die Möglichkeit, unser Judentum anders zu leben als etwa in Israel." Die Jugend lebe ihr Judentum sehr individuell, teils religiös, dann wieder nicht. Prägend für diese Generation wurden die "Limmud"-Gruppen. "Limmud" sind jüdische Treffen, bei denen Lektoren, Pädagogen und Künstler zum Austausch zusammenkommen; teils finden auch Vorträge oder Workshops statt. "Limmud" wurde erstmals vor 30 Jahren in Großbritannien abgehalten und zum inspirierenden Modell für mehr als 50 "Limmud"-Gruppen auf der ganzen Welt.
"Mein Punkt ist: Alle Juden in Europa sind heute freiwillige Juden", betont Diana Pinto. Die Zeit der Diktaturen und Diskriminierungen ist vorbei, nun könne jeder seine eigene jüdische Identität frei und ungestört selbst entfalten. Die Paradoxie sei: Ausgerechnet der jüdische Staat, der diese klare Trennung von Staat und Religion nicht hat, sei hier für die Juden einschränkender.
Doch nicht nur Juden sind heute teils auf der Suche nach ihrer Identität, auch Europa ist es. Für Diana Pinto ist Europa nicht nur ein geografischer Raum. Für sie verkörpert Europa viele Werte, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt haben. Der Antisemitismus in Europa werde von einigen Israelis übertrieben. Der ehemalige Ministerpräsident Ariel Sharon hat den Juden im Jahr 2003 bei seinem Frankreich-Besuch geraten, das Land zu verlassen, bevor es zu spät sei. "Damit hat er einige französische Juden sehr vergrämt."
Das Paradoxe: Gerade der europäische Bezug auf den Holocaust führe auch zu Spannungen mit Israel, meint Diana Pinto: "Ich habe in einem Artikel auf die Inkompatibilität zwischen dem europäischen Nie wieder und Israels Nie wieder hingewiesen. Es sind zwei völlig divergierende Verständnisse."
Europas Länder könnten sich seit 1945 nicht mehr auf ein ethnisches Staatsverständnis gründen. Seither gilt allein das Konzept der Staatsbürgerschaft. Anders Israel, das sich als Staat für Juden versteht. "Israel ist insofern ein ethnischer Staat und hat verschiedene Kategorien von Staatsbürgerschaft. Arabische Israelis haben nicht die gleichen Rechte. Das fällt nicht einmal unter Diskriminierung, sondern ist in der Verfassung so festgelegt." Darin liege auch ein Grund dafür, dass die Linke heute "Israel als rassistischen Staat bezeichnet."
Diana Pinto konstatiert eine im vergangenen Jahrzehnt gewachsene Israel-kritische Stimmung in Europa, und dies sei heute der unerfreuliche Aspekt des jüdischen Lebens hier. "Die Juden sprechen nicht mehr über Israel, weil viele ihrer nicht-jüdischen Freunde Israel nicht verstehen." Speziell bei liberalen, säkularen Linken gebe es nur mehr wenig Toleranz für Israel. Das sei für viele Juden ein Problem.
Schweigen zu Israel
"Man kann nicht Jude sein, ohne irgendeine Verbindung zu Israel zu haben", hält Pinto fest. "Wenn einzelne Juden behaupten, Israel spiele für sie keine Rolle, ist das nicht sehr glaubwürdig." Kritik an Israel sei an sich in Ordnung und werde auch von Juden geteilt. "Viele Juden mögen überhaupt nicht, was Israel tut. Nur empfinden einige, dass nicht-jüdische Kritiker Israels heute auch die Schaffung des Staates Israel als Fehler betrachten. Das führt dazu, dass Juden zu diesem Thema schweigen, denn man will nicht, dass Israel verschwindet."
Erschwerend kommt hinzu, dass Rechtspopulisten wie Marine Le Pen ihre Liebe zu Israel entdeckt haben und gleichzeitig die Islamopobie bedienen. "Die israelische Flagge wird zum Bezugspunkt für die falschen Leute", meint Pinto. In Frankreich zogen deshalb Juden durch jüdische Viertel, um klarzumachen: Wählt nicht Le Pen, nur weil sie die Araber hasst und den Holocaust nun akzeptiert.
Die wachsende Präsenz von Muslimen hat Europa pluralistischer gemacht. Dadurch könne Europa als Ort der Begegnung von Juden und Muslimen ein positives Beispiel von Pluralismus geben, meint Pinto, auch für Israel. "Ich habe keine Angst vor Pluralismus. Ich bin eine demokratische Pluralistin", betont sie. "Zu Europa und zum Rechtsstaat gehören der Schutz vor Antisemitismus und ebenso der Schutz von Minderheiten." Gerade orthodoxe Juden und gläubige Muslime könnten hier sehr gut miteinander auskommen, ebenso auch säkulare Juden und Muslime.