Dank Goethes "Faust" und der Walpurgisnacht lockt höllisches Treiben Ende April Tausende Besucher auf den Brocken im Harz.
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Der Harz ist das höchste Gebirge Norddeutschlands, 110 km lang und 30 km breit. Sein höchster Punkt, die baumlose Brockenkuppe, blickt bis weit über Pommern hinaus. Besonders hoch ist er nicht, nicht einmal für Wiener Verhältnisse. Doch 1141 Meter können bedrohlich genug sein, wenn der Westwind pfeift und dunkle Nebel die Hänge hinauf zum sagenumwobenen Gipfelplateau wabern, das bis zum Ende der DDR militärisches Sperrgebiet war.
An der Grenze von Niedersachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt ist die Zeit schon öfter stillgestanden. Richtig spukgefährlich war es nie dort oben, wo Wanderfaule heute auch mühsam mit der Pferdekutsche oder bequem mit der Brockenbahn anreisen können - im Dampflok-Linienverkehr von vielen Orten rundum, der vielleicht auch die Romantiker Novalis, Ernst Schulze und Heinrich Heine begeistert hätte, dessen "Harzreise" in die Weltliteratur Eingang fand. Der Harz galt der Romantik als heimatliche Sehnsuchtslandschaft - das "Muttergebürg, welchem die andere Schar wie das Laub entspross" (Novalis), ebenso ursprünglich wie sagenumwoben. Und das wiederum verdankt der Bergzug Goethe, niemandem sonst, auch wenn der Harz schon länger davor Geschichte schrieb.
Der Harzgau selbst, in einer Urkunde von Kaiser Ludwig dem Frommen aus dem Jahre 814 in der hochdeutschen Form Hartingowe genannt, wurde - den Jahrbüchern von Fulda zum Jahre 852 zufolge - von den Haruden bewohnt. Aus Harud wurde Hard (Hart, Harz), was Wald (Waldgebirge) bedeutet. Karl der Große erklärte den Harz zum "Reichsbannwald".
Der "Sachsenspiegel", das älteste deutsche Rechtsbuch, schrieb den Reichsbann um 1220 später fest: Wer durch den Harzwald ritt, der hatte Bogen und Armbrust zu entspannen und die Hunde anzuleinen - nur gekrönte Häupter durften hier jagen, "wo den wilden Tieren Schutz in des Königs Bannforsten gewährt wird." Von freiem Zutritt in den Harz konnte über Jahrhunderte keine Rede sein, lange bevor Stasi-Spitzel bis in die 1980er Jahre jeden im Grenzbereich zum Westen unter Generalverdacht stellten.
Für ewig hielt dieser Bann allerdings nicht. Bergbau und Wasserwirtschaft, zunehmende Besiedlung und Rodungen, Vieheintrieb, Landwirtschaft und später der beginnende Fremdenverkehr untergruben den kaiserlichen Schutz. Vom 12. bis zum Ende des 14. Jahrhunderts prägte das Zisterzienserkloster Walkenried große Teile des Harzes und steuerte, neben Ackerbau und Fischzucht, auch den Silberbergbau im Oberharz und in Goslar.
1588 veröffentlichte Johannes Thal mit der "Silva Hercynia" die welterste Regionalflora und beschrieb die floristischen Besonderheiten des Mittelgebirges, die die schwedischen Söldner im Dreißigjährigen Krieg (1618- 1648) jedoch wenig beeindruckte: Große Teile des Harzes wurden verwüstetet und entvölkert, raue Gesellen durchstreiften die deutschen Wälder.
1668 erließ Rudolf August, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, eine erste Schutzverordnung für Höhlen: Dort dürfe nichts verdorben oder vernichtet, auch kein fremdes loses Gesindel unangemeldet hineingelassen werden - das Geburtsjahr des klassischen, konservierenden Naturschutzes im Harz. 1707 verbot eine Verordnung des Grafen Ernst zu Stolberg den Brockenführern, Fremde oder Einheimische ohne besondere Erlaubnis auf den Brocken zu führen. Sogar das Feuermachen wurde untersagt.
Verhext noch mal: Als Dichterfürst Goethe den Brocken bestieg, war das noch ein gefährliches Abenteuer. Doch bald kam das Brockenwandern in Mode. Schon 1800 konnte Brockenwirt Gerlach in seinem Gasthaus 1000 Gäste begrüßen. Eine Zahl, über die dortige Bürgermeister angesichts tausender Hexen in einer einzigen Nacht nur zufrieden schmunzeln können. "Man tanzt, man schwatzt, man trinkt, man liebt; nun sag’ mir, wo’s was Bessres gibt", fragte Mephisto Goethes Faust auf dem Blocksberg. Spätestens seit der Dichter den Hauptsitz der Walpurgisnacht auf den Brocken verlegte, locken Hexenkult und höllisches Treiben Ende April alljährlich Tausende Besucher in den Harz.
Johann Wolfgang von Goethe war als junger Mann mehrmals da und ließ seine Beobachtungen der Gesteine am Brocken in seine geologischen Forschungen einfließen (siehe Goethe: "Dichtung und Wahrheit"). Er muss ziemlich allein gewesen sein, denn für das Jahr 1779 sind etwa nur 421 Wanderer belegt: "So einsam, sage ich zu mir selber, indem ich diesen Gipfel hinabsehe, wird es dem Menschen zumute, der nur den ältesten, ersten, tiefsten Gefühlen der Wahrheit seine Seele öffnen will."
Von völlig unberührten Naturlandschaften, mit Hochmooren, Heidelbeeren und Wildkatzen, kann zumindest ganz oben keine Rede mehr sein: Mittlerweile wollen jährlich über eine Million Touristen mitteldeutsche Höhenluft schnuppern, sich brockenweise Harzer Schmorwurst mit Braunkohl und Bockbier einverleiben, und den Brockengarten besuchen - eine einzigartige Sammlung von 1600 Hochgebirgspflanzen, die seit 1890 unter Nationalparkverwaltung steht.
Hexentanzplatz
Mutigere wagen sich danach zum Kanufahren und Klettern ins Okertal und an die Höllenklippe. Oder gehen Drachenfliegen am Rammelsberg bei Goslar (ebenfalls ein Ziel des jungen Goethe), dessen Schaubergwerk zum UNESCO-Weltkulturerbe geadelt wurde. Über 60 Mountainbike-Strecken locken, dazu Bikeparks mit Liftbetrieb wie in Braunlage und Hahnenklee. Die Harzer Wandernadel mit 222 Stempelstellen verführt nicht nur Fernwanderer auf den Selktalstieg oder den Harzer Hexenstieg.
Dieser mit einer Besenreiterin markierte Wanderweg erstreckt sich auf annähernd 100 Kilometern von Osterode über den Brocken nach Thale - der Ort stellt mit dem Hexentanzplatz auf dem Brockengipfel und der legendären Rosstrappe, deren Vertiefung eine Opferschale darstellt und eine wichtige germanische Kultstätte war, eines der touristischen Zen-tren der Harzer Walpurgisnacht, die in 35 Orten begangen wird. Beseelt von Schwefelduft und Schellenklang an der Schwelle zum Monat Mai feiern Gastronomie und Hotellerie den "perfekten Startschuss in die Sommersaison", schwärmt Kutscher Jens aus Wernigerode, der seine Teufelshörner alljährlich aufs Neue wachst und aufpoliert.
Gleich am nördlichen Ortsrand beginnt der Nationalpark Hochharz, einer von 13 in Deutschland. 89 Quadratkilometer Mittelgebirgslandschaft mit Wäldern und Mooren und Fließgewässern wurden hier unter Schutz gestellt. Im Unterharz liegt auch Deutschlands erster offizieller FKK-Wanderweg, der 18 km lange Harzer Naturistenstieg. Überall sonst ist es recht beschaulich geblieben, mit Weilern, Schluchten und Schenken. 1705 wurde der letzte Bär erlegt, 1798 der letzte Wolf, und das gefürchtete Brockengespenst, das nicht wenige zu erspähen wähnen, könnte auch mit Höhenräuschen zu tun haben.
Doch viel gefährlicher waren ohnedies immer die Hexen, und davon gibt es angeblich immer noch genug. Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe, beruflich zuständig für die Erneuerung des Bergbaus zu Ilmenau, bestieg den unheimlichen Gipfel 1777, war tief beeindruckt und trug mit seiner Ballade "Die erste Walpurgisnacht" maßgeblich zum Blocksberg-Mythos bei: Der Brocken als Hexenberg (Blocksberg) war spätestens 1808 geboren, als "Faust. Eine Tragödie" zum Beginn des nationalen Bildungstourismus wurde: Plötzlich gab es Teufelsloch und Hexenküche, Teufelskanzel und Hexenaltar auf den Landkarten - die Wirte rundum wussten bald gut, wie das neue Markenzeichen den Fremdenverkehr ankurbeln konnte.
Seit damals trieb es alljährlich zum 1. Mai Unholde aus ganz Deutschland in den Harz. Schon 1901 brachten schnaufende Sonderzüge der Brockenbahn hunderte Feierwillige hinauf zum Gipfel, darunter nur ein paar Frauen, auch wenn die mittelalterlichen Hexenjagden lange vorbei waren. Die Zauberweiber aus mittelalterlichen Überlieferungen, die bei Nacht und Wind Otfried Preußlers kleiner Hexe Bibi Blocksberg Angst und Schrecken einjagten, sahen jedenfalls anders aus und kamen per Besen. Bereits 1910 waren Walpurgis-Anstecknadeln im freien Verkauf. 1932, im 100. Todesjahr Goethes, wurde die 30. Walpurgisfeier auf dem Brocken sogar von "FOX Tönender Wochenschau" übertragen. Ab 1961 galten die Harzer Walpurgisabende als "Internationale Kampf- und Feiertage der Werktätigen für Frieden und Sozialismus".
Mephisto-Express
Zu feiern gab es lange wenig. Heute aber ist im Harz der Teufel los, wenn in der letzten Aprilnacht Hexen und Hexeriche auf tausende Ausflügler stoßen. Rund hunderttausend knorrige Alte, schaurig Schöne und Dämonen aller Art feiern die Walpurgisnacht mit Gauklern, Geistern und Theateraufführungen im Bergtheater Thale. Die Verbrennungen von Hexenpuppen unten im Tal sind zumindest weniger geworden, nicht nur am Hexentanzplatz, einem altsächsischem Kultort gegenüber der Rosstrappe, wohin man mit der Bodethal-Seilbahn geruhsam schweben kann. Dort oben lässt sich’s in der Walpurgishalle prächtig in die harzisch-hexische Sagenwelt eintauchen, quietschend die Harz-Bobbahn talwärts brausen und niedliche Hexenpüppchen kaufen, die einander verteufelt ähnlich sehen.
Wer zu Walpurgis wirklich den Überblick bewahren will, muss aber mit dem schnaufenden Mephisto-Express ganz hinauf auf den Brocken, zum höchsten Schmalspurbahnhof Deutschlands in 1125 Meter: Dort geht Goethes Faust, Teil 2, seit 2010 als Rockoper ab, in Deutschlands höchstgelegenem Bühnenhaus. Das offizielle Treiben endet stets mit dem diabolischen Feuerwerk um Mitternacht. Ob in zünftiger Verkleidung oder nur als neugierige Zuschauer, so richtig interessiert es dann keinen mehr, warum gerade hier und was genau eigentlich gefeiert wird. Denn der wahre Ursprung der Walpurgisnacht führt weit in die Vergangenheit zurück, in vorchristliche Zeiten, mit Kult- und Opferstätten allüberall im Harz, als richtige Männer noch richtige Fäuste sprechen ließen, Geheimrat hin oder her. Romantisch war man anderswo.