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"Die Atmosphäre ist gespannt. Sonst ist es ruhig", sagt Dr. Sima Samar am Telefon. Sie kommt gerade von einer Unterredung mit einem Mitarbeiter des UN-Flüchtlingshilfswerks in Pakistan. Der hat berichtet, dass die afghanischen Flüchtlinge, die bis jetzt nach Pakistan kamen, vielleicht doch im Land bleiben dürfen. Dann soll nahe der Grenze ein Lager für sie gebaut werden. Doch wer weiß schon, was in ein paar Tagen sein wird? Schon jetzt leben geschätzte zwei bis vier Millionen Afghanen in Pakistan, die seit Beginn von Krieg und Bürgerkrieg vor 22 Jahren ins Nachbarland geflüchtet sind. Bei einem US-Angriff, so fürchtet Pakistan, könnte noch einmal eine Million ins Land kommen, dem ohnehin eine Zerreißprobe bevorsteht.
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Denn schon demonstrieren auf den Straßen pakistanische Anhänger der Taliban gegen den Erzfeind USA. In den Herzen der meisten Menschen regiert die Angst. Auch in Simas Kopf herrscht Aufruhr: "Ich kann mich auf nichts anderes mehr konzentrieren, will nur alle Nachrichten hören." Die afghanische Ärztin, die seit fast zwanzig Jahren im pakistanischen Quetta im Exil lebt, will wenigstens nach außen Ruhe bewahren. Jeden Morgen geht sie um 8 in die Klinik. Wie gewohnt. Um 14 Uhr kehrt sie nach Hause zurück. Dann beginnt wieder das Warten. Ein ungewohnter Zustand für Sima, die schier Unmögliches geleistet hat.
Unmögliches zumindest nach der Doktrin der Taliban. Vor deren Einmarsch im September 1996 in Kabul waren die Hälfte der Studierenden und Lehrenden an der Universität und 40 Prozent der Ärzte Frauen. Die Taliban vertrieben sie von ihren Arbeitsplätzen und aus den Universitäten und zwangen sie unter die Burka, einen Ganzkörperschleier, der selbst vor den Augen nur ein enges Gitternetz zulässt. Weil es nur noch männliche Ärzte in den Krankenhäusern gibt, werden Frauen dort nicht mehr behandelt. Sie dürfen auch nicht mehr außerhalb des Hauses arbeiten und Mädchen nicht zur Schule gehen. Vermeintliche Ehebrecherinnen werden gesteinigt, Prostituierte gehängt.
Behandlung und Ausbildung
Doch Sima hat von Quetta aus das Unmögliche möglich gemacht und Kliniken und Schulen in Afghanistan aufgebaut. Kliniken, in denen Mädchen und Frauen nicht nur behandelt werden, sondern sich auch als Krankenpflegerinnen und Hebammen ausbilden lassen können. Und Schulen, die ihnen eine umfassende Bildung bis zum Abitur ermöglichen. Außer in Afghanistan unterhält Sima noch ähnliche Projekte im Grenzgebiet in Pakistan, wo Hunderttausende afghanische Flüchtlinge in Lagern leben. Im März hat sie dafür in St. Gallen den mit 50.000 Schweizer Franken dotierten Paul-Grüninger-Preis erhalten.
Die Klinik, in die Sima jeden Tag geht, ist ein unscheinbares graues Backsteingebäude am Stadtrand von Quetta. Im Erdgeschoss sind die Büros und Krankenzimmer, im ersten Stock wird operiert. Zur Zeit sitzen die Mitarbeiter jedoch die meiste Zeit vor dem Radio. "Seit den Attentaten in den USA ist die Zahl der Patienten um die Hälfte zurück gegangen", erzählt Sima. "Nur Schwerkranke kommen zu uns. Die Menschen fühlen sich zuhause am sichersten und gehen nur noch zum Einkaufen auf die Straße." Wer einen Fernseher hat, sitzt gebannt davor. Alle hören Nachrichten. Regionale Sender, Voice of America, CNN. Die BBC hat ein neues Programm in Farsi (Persisch) und Paschtu, der afghanischen Landessprache, eingerichtet.
Letzte Woche hat Pakistan seine Grenze zu Afghanistan geschlossen. Die Menschen, die jetzt vor den Bomben der USA fliehen, sind in desolater Verfassung. Von der jahrelangen Dürre in Afghanistan und dem Hunger ausgezehrt. Wer aber keinen Schleichweg kennt oder Bestechungsgeld zahlen kann, für den ist an der Grenze Endstation. Die Taliban brauchen dringend mehr "Gotteskrieger" und haben angeordnet, dass jede Familie mindestens einen Mann als Kämpfer stellen muss. Wie Augenzeugen berichten, schickt auch die pakistanische Polizei männliche Flüchtlinge wieder zu den Taliban zurück.
Verheerende Zustände
Quetta ist nur 80 Kilometer von der afghanischen Grenze entfernt. Als Sima 1984 mit ihrem 5-jährigen Sohn dort ankam, war sie entsetzt über die Not in den Flüchtlingslagern. Sie beginnt, afghanische Flüchtlinge zu behandeln. Die pakistanischen Ärzte verachten diese Menschen, die sie für schmutzig und dumm halten. Als eine schwangere Afghanin stirbt, weil niemand sich um den Notfall kümmert, beschließt Sima, eine Klinik für Frauen einzurichten. Doch zunächst will keine Hilfsorganisation das Projekt unterstützen.
In ständiger Todesangst
Sima gibt nicht auf. Endlich findet sich ein Geldgeber, sie kann ein Haus anmieten und eine Klinik einrichten. Damit fangen die Probleme aber erst an: Schikanen der pakistanischen Regierung und Polizei, Drohungen von islamistischen Parteien, aber auch von ihren Brüdern, die um die "Familienehre" fürchten. Als alleinerziehende, arbeitende Frau wird sie beschuldigt, eine Prostituierte zu sein. Ein potentiell tödlicher Vorwurf. Oft liegt sie nachts wach vor Todesangst, neben sich ihren kleinen Sohn, der sie zu trösten versucht.
"Ich habe selbst Benachteiligung und Unterdrückung erfahren", sagt Sima als Motiv für ihr Engagement. Sie ist aber auch schon immer eine Kämpferin gewesen. Als Schülerin setzt sie durch, dass sie die Schule beenden kann. Als Studentin verteilt sie Flugblätter gegen die sowjetischen Besatzer. Damals, in den siebziger Jahren, trugen viele Frauen in Kabul noch kniekurze Röcke. Samar trug am liebsten Rot. Die Farbe passt zu ihrer Ausstrahlung, ihrem Lachen. Heute, mit 45, trägt sie gedecktere Farben, was den Sitten ihrer Wahlheimat entspricht.
8 Krankenhäuser mit täglich je 40 bis 70 PatientInnen, 12 Kliniken sowie 49 Schulen, in die 20.000 Mädchen und Buben gehen - das ist Simas Bilanz. Dafür brauchte es nicht nur viel Mut, sondern auch geschicktes Lavieren. Vor allem in Afghanistan. Sima, die aus der Provinz Ghazni im Südwesten Afghanistans stammt, gehört zur ethnischen Minderheit der Hazara. Sie sind Shiiten und erbitterte Kriegsgegner der Taliban, die meist sunnitische Paschtunen sind. Auch Bamian, wo die Taliban die berühmten Buddha-Statuen zerstört haben, ist Hazara-Gebiet.
Geschicktes Verhandeln
Vor einigen Monaten ordneten die Taliban in der Provinzverwaltung an, sie möge die Mädchenschule in Ghazni schließen. "Auf der höheren Ebene ist es unmöglich zu verhandeln. Wir bleiben auf der lokalen Ebene", erklärt Sima. Ihre Mitarbeiter waren also sehr nett zu den Taliban in Ghazni; gaben ihnen Aspirin, wenn sie die Klinik besuchten; luden sie zum Essen ein und sagten zu ihnen: "Wir halten die Leute beschäftigt, dass sie nicht gegen euch kämpfen". Die Schule durfte offen bleiben.
In jeder neuen Schule lässt sie im ersten Jahr nur Jungen unterrichten. Dann geht sie zu den Eltern und verkündet, "dass wir mit dem Unterricht nur weitermachen, wenn ihr auch die Mädchen zu uns schickt". Die Mädchen selbst muss niemand überreden, viele gehen zwei Stunden zu Fuß, um zur Schule zu können. Die Klassen sind nach Geschlechtern getrennt. "Mal unterrichten wir morgens die Jungen und nachmittags die Mädchen, mal umgekehrt", erklärt Sima.
Sie könnte viele Geschichten von Geschlechter-Apartheid erzählen. Eines Tages sitzt ein Ehepaar in ihrer Sprechstunde. "Untersuchen Sie meine Frau", fordert der Mann, "ich will endlich Kinder." Seine Frau, die stumm neben ihm sitzt, nickt. Sie hat sieben Töchter, aber noch keinen Sohn. Sima zuckt mit den Schultern. "Mädchen zählen nicht."
In ihrer eigenen Familie war es nicht anders. Ihr Vater nahm sich früh eine Zweitfrau, beide Familien lebten unter einem Dach. Ihre Schwester, die gern zur Schule gegangen wäre, musste auf die Söhne der Stiefmutter aufpassen. Sie wurde verheiratet, als Sima 5 Jahre alt war. Klein-Sima lugte durch die Beine der Hochzeitsgäste hindurch und sah, wie die Schwester sich wehrte, als sie nachts zu ihrem Ehemann geführt wurde. "Für mich war das ein Schock", erinnert sie sich. Als ihr Vater sie nicht studieren lassen wollte, heiratete sie - aber nur, um zur Universität zu können. Ihr Mann, der Einzige, der sie je unterstützte, wie sie sagt, verschwand beim prosowjetischen Putsch 1978.
Preise für neue Projekte
Der Paul-Grüninger-Preis war nicht die erste Auszeichnung, die Sima erhielt. Die internationalen Preise schützen sie in Pakistan vor einem Anschlag auf ihr Leben. In Afghanistan ist sie dagegen seit drei Jahren nicht mehr gewesen, seit dort einer ihrer Ärzte während einer Polio-Schutzimpfung verhaftet wurde. Sie hält von Quetta aus Verbindung mit ihren MitarbeiterInnen. Zu der von ihr gegründeten Shuhada-Organisation, unter deren Namen sie ihre Projekte verwaltet, gehören inzwischen auch einkommenfördernde Projekte wie Teppichweben und Schafzucht: "Die Taliban wollen Shuhada aber nicht registrieren, solange eine Frau Geschäftsführer ist."
Nacktes Überleben
In Quetta hat der Mitarbeiter des UN-Flüchtlingswerks Sima mitgeteilt, dass seine Organisation keine Genehmigung habe, auch den Menschen in der Stadt zu helfen. Also lässt Sima in der Klinik Kleidung, Zucker, Tee und Öl austeilen. Die finanziellen Mittel von Shuhada reichen gerade dafür aus, dreißig Familien pro Woche mit dem Nötigsten zu versorgen. Draußen warten zwei Mädchen aus Bamian, 6 und 8 Jahre alt. Ihre Eltern sind beim Massaker, das die Taliban im Januar in der Stadt Jakaolang unter der Bevölkerung verübten, ermordet worden. Sie sind bei einer Tante in Quetta untergekommen, die aber selbst in bitterster Armut lebt. Nun holen sie sich in Simas Klinik ein paar warme Pullover ab.
Unsichtbare Grenze
Wie es mit Simas Projekten weiter geht, steht in den Sternen. Die Taliban haben dieses Jahr zwei ihrer Kliniken in Afghanistan mit Gewalt übernommen. Ein Lastwagen, der mit Medikamenten und medizinischen Geräten beladen war, wurde gekapert, der Fahrer getötet. Trotzdem glaubt Sima, dass sie mit ihrer Arbeit weitermachen kann, solange sie sich an die unsichtbare Grenze hält, die zwischen der Hazara-Region in Zentral-Afghanistan und dem Rest des Landes verläuft. Da die Taliban hier keine Trainingslager haben, hofft sie, dass die Region auch von amerikanischen Bomben verschont bleibt. Und irgendwann möchte sie in ihre Heimat zurückkehren - "das ist mein sehnlichster Wunsch", sagt sie.
Im Internet: www.shuhada.org.
Spendenkonto: Afghanistan-Hilfe Schaffhausen, Postkonto 82-2787-6 oder Schaffhauser Kantonalbank, Schaffhausen, Kto.Nr. 620.634-2 101, mit der Anmerkung: für Dr. Sima Samar.