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"Hilfe kostet eben"

Von Katharina Schmidt

Recht
© Christoph Liebentritt

Rudolf Müller, Präsident der Juristenkommission und Verfassungsrichter, über das Verhältnis von Migration und Sozialstaat.


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"Wiener Zeitung": Ein Jahr nach der großen Flucht ist die Kluft zwischen rechten Hetzern und linken Träumern in Österreich gefühlt so groß wie nie. Hat die Migration den gesellschaftlichen Zusammenhalt nachhaltig verändert?

Rudolf Müller: Ich glaube nicht, dass das an der Migration liegt. Eher ist es der politische Stil der letzten 20 Jahre, der den Zusammenhalt erodiert, indem er polarisiert. Der Populismus braucht es wie einen Bissen Brot, die europäischen Gesellschaften in eine ganz bestimmte Richtung zu polarisieren. Man missbraucht das Schlagwort der deutschen Wende: "Wir sind das Volk" und erzeugt damit eine Kluft zwischen "uns", die wir wissen, was das Volk denkt, und dem Establishment "da oben". Diese neue Qualität in der Politik hat es vor dieser populistischen Strömung nicht gegeben - heute wird nicht einmal ein Mindestmaß an Respekt aufgebracht. Das beschränkt sich nicht nur auf die Fremden, aber man braucht einen Feind von außen.

Daran beteiligen sich aber auch Politiker der anderen Parteien, die immer mehr Asylrechtsverschärfungen propagieren. Wann ist Ihrer Meinung nach die menschenrechtlich machbare Grenze erreicht?

Es handelt sich zum Teil um Scheinverschärfungen. Wir müssen uns an unionsrechtliche und völkerrechtliche Verpflichtungen halten. Und dann gibt es noch die Europäische Menschenrechtskonvention. Innerhalb dieser unions- und verfassungsrechtlichen Grenzen kann der Gesetzgeber Verschärfungen beschließen. Ob der bürokratische Aufwand dafürsteht, bleibt abzuwarten. Denn ein Großteil derer, die nicht Asyl bekommen, muss faktisch in Österreich leben, weil die Staaten, in die man sie zurückschicken möchte, sie nicht nehmen. Dazu muss man sagen, dass Österreich ein Einwanderungsland ist. Wir kompensieren unsere niedrige Geburtenrate durch Migration und werden daher auch in den nächsten Jahren bevölkerungsmäßig wachsen. Wir brauchen das Bevölkerungswachstum, den künftigen Bedarf des Arbeitsmarktes zu decken und damit unsere Pensionen und den Sozialstaat finanzieren zu können.

Derzeit spielen Innen-, Integrations- und Verteidigungsminister abwechselnd auf der Klaviatur der FPÖ. Verschärfen sie damit nicht die gesellschaftliche Spaltung?

Ich möchte nicht Einzelpersonen kritisieren. Aber Politologen sagen schon seit längerer Zeit, dass man Populisten nicht beikommen kann, indem man versucht, sie zu überholen oder ihnen auch mit Sachargumenten zu entgegnen. Die Erfahrung zeigt, dass man Populisten nur mit ihren eigenen Mitteln schlagen kann, indem man versucht, sie dort zu erwischen, wo sie sich stark fühlen. Man muss die Populisten lächerlich machen, um sie wirksam zu bekämpfen.

Ein wichtiger Aspekt der Frage nach dem Verhältnis zwischen Sozialstaat und Migration ist das Thema Mindestsicherung: Momentan sieht es so aus, als würde sie auf 1500 Euro gedeckelt werden.

Es gibt ein bedenkenswertes Erkenntnis des VfGH aus dem Jahr 1988. Damals hat man in Kärnten eine Obergrenze eingezogen, die dem Sozialhilfe-Richtsatz für zwei Erwachsene und ein Kind entsprochen hat. Diese Obergrenze hat der VfGH als verfassungswidrig aufgehoben; er hat dem Argument zugestimmt, dass mit der Größe der Familie gewisse Synergieeffekte eintreten, aber gemeint, dass der zusätzliche Aufwand für das zweite und dritte Kind nicht bei null liegt. Der Gerichtshof hat auch gesagt, dass zwei Erwachsene und ein Kind nicht automatisch die typische Familie und alles andere bloße Härtefälle sind. Noch dazu in einer so heiklen Frage, weil die Richtwerte der Mindestsicherung bedeuten, dass man diesen Geldbetrag braucht, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Die Menschenrechtskonvention gilt ja auch für Inländer. Wenn man einen Deckel bei 1500 Euro einziehen möchte, dann entspricht das ziemlich genau den Richtwerten für zwei Erwachsene und ein Kind. Es gibt ein zweites Erkenntnis des VfGH ebenfalls zu Kärnten, das die Sozialhilfe einmal ohne nähere Begründung schlagartig um 20 Prozent reduziert hat. Das hat der VfGH als verfassungswidrig aufgehoben, mit der Begründung, dass man die Mindestsicherung nicht ohne sachliche Begründung herabsetzen kann.

Eine Begründung wäre, dass durch die Flüchtlinge die Ausgaben für die Mindestsicherung gestiegen sind und der Staat ja etwas tun muss, weil die Ausgaben nicht ins Unermessliche steigen können.

Man kann sicher zwischen In- und Ausländern differenzieren, indem man bei Flüchtlingen Geld- durch Sachleistungen ersetzt. In jeder Mindestsicherung steckt ein Anteil für die "angemessene Teilhabe am kulturellen Leben". Stattdessen kann ich bei jemandem, der hier noch nicht integriert ist, Integrationsleistungen als Naturalleistung anbieten. Sachleistungen sind auch die Verköstigung oder Unterbringung auf Landeskosten. Nicht alles muss Geldleistung sein.

Aber kann man, wie es jetzt in Oberösterreich umgesetzt wird, von 520 Euro im Monat leben?

Es kommt darauf an, was man sich davon finanzieren muss. Wenn man dazu noch eine Wohnung zahlen muss, dann kann es nicht gehen. Dann sind 520 Euro zu wenig und der Druck auf die NGOs, anstelle der staatlichen Kassen einzuspringen, steigt.

Derzeit gibt der Staat viel für Integration aus - wie vermeidet man da Neiddebatten?

Diese Neiddebatten sind ja so absurd. Man muss sich nur ansehen, was in diesem Land mit einem ausgebauten Sozialstaat für Inländer geschieht. Das alles wird als selbstverständlich hingenommen. Aber scheinbar kann man Neiddebatten nicht verhindern.

Bei der Herbsttagung der Juristenkommission geht es darum, ob die Migration den Sozialstaat gefährdet, weil die Ausgaben für die Mindestsicherung steigen. Auf der anderen Seite braucht der Sozialstaat die Leistungen der Migranten. Wie stehen Sie zu dieser Frage?

Das ist ein Problem, das man nicht einfach lösen kann. Natürlich kosten die Migranten am Anfang Geld. Aber Hilfe kostet eben. Wenn man sich den Grundsätzen der Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta verschrieben hat, darf man nicht glauben, dass das zum Gratis-Tarif geht. Es ist das Zeichen einer entwickelten Gesellschaft, dass sie bereit ist, ihren Wohlstand zu teilen. Und zwar mit den Menschen, die aus den Staaten kommen, auf deren Ausbeutung der Wohlstand unserer westlichen Welt zum Teil beruht.

Ein komplett anderes Thema: In der Debatte um die Aufhebung der Bundespräsidentenwahl wurde auch immer wieder kritisiert, dass Verfassungsrichter zu viele Nebenjobs haben dürfen, während das bei Verwaltungsrichtern nicht der Fall ist. Wie kommen Sie zurecht?

Früher hatten wir im VfGH vier bis sechs ständige Referenten, die Entscheidungen vorbereitet haben, heute arbeiten 13 Richter an der Vorbereitung der Akten, das ist eigentlich gut zu bewältigen. Wir bauen auch keine Rückstände auf. Es gibt vier Berufsgruppen, aus denen Verfassungsrichter kommen: Richter, Rechtsanwälte, Uniprofessoren und Verwaltungsbeamte. Nur Letztere werden für die Tätigkeit als Verfassungsrichter freigestellt, die anderen bleiben mit einem Bein noch in ihrer Berufstätigkeit. Das ist ein großer Vorteil, weil man sich nicht nur mit Verfassungsrecht beschäftigt. Im praktischen Rechtsleben zu bleiben ist wichtig, weil man in Österreich unter Umständen 30 Jahre Verfassungsrichter sein kann. Man sollte aber nicht 30 Jahre lang das Leben fern der Praxis ausschließlich aus der Sicht des Verfassungsrechts sehen. Die deutschen Bundesverfassungsrichter dürfen außer an Universitäten nirgends tätig sein; sie sind aber auch nur für zwölf Jahre ernannt.

Würde Sie ein solches System nicht auch weniger angreifbar machen?

Ich glaube nicht, dass uns das System angreifbar macht. Wenn man uns angreifen will, dann kann man das immer tun - siehe Ortstafelkonflikt und jetzt die Wahlanfechtung. Ich bin seit 20 Jahren am Gerichtshof und ich habe das Gefühl, dass die Qualität der Entscheidungen selten so hoch war wie derzeit. Wir sind ausgezeichnet besetzt, es gibt im Gerichtshof keinen schwachen Punkt. Die Wissenschaft kritisiert ja auch nicht die Qualität der Entscheidungen. Auch in der aktuellen Debatte nicht. Es gehen manche nur von der These aus, wir hätten bei der Anfechtung der Stichwahl die statistischen Wahrscheinlichkeiten berücksichtigen müssen. Das haben wir bisher noch nie getan, wir haben uns also an der ständigen Rechtsprechung orientiert. Es hat auch noch niemand erklärt, ab welchem Ausmaß einer Manipulation das Pendel beim Statistiker auszuschlagen beginnt. Müssen 1000 Stimmen oder 5000 manipuliert worden sein, bis er etwas merkt? Wenn es bei einer Gemeindewahl auf zehn Stimmen ankommt, nutzt mir die Statistik nichts. Ich halte es aber für richtig, dass sich der Gerichtshof an dieser Debatte nicht beteiligt hat. Das sollte er weiterhin nicht tun. Ein Höchstgericht, mit den ihm eigenen Beschränkungen im medialen Umgang, kann seine Entscheidungen in einer öffentlichen Debatte nicht erfolgreich verteidigen, es zieht dabei immer den Kürzeren.

Rudolf Müller ist seit 1998 Richter am Verfassungsgerichtshof, von 1990 bis 2012
war er auch Verwaltungsrichter. Der Experte für Arbeits- und Sozialrecht
ist zudem Chef der Pensionskommission, Honorarprofessor der Uni
Salzburg und seit Mai Präsident der Österreichischen Juristenkommission.

Die Herbsttagung der Juristenkommission zum Thema "Migration - Gefährdung oder Rettung des sozialen Netzes?"
findet am Donnerstag, dem 10. November, ab 17.30 Uhr im Wappensaal des
Wiener Rathauses statt.