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Als Konsequenz der Corona-Pandemie sollten Kunstschaffende ihr Verhältnis zum Publikum hinterfragen und neu verhandeln.
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Der Kulturbetrieb leidet, Hilferuf folgt auf Hilferuf. Und kein Ende des Stillstands in Sicht. Mit dem Regierungsbeschluss, bis auf weiteres alle öffentlichen Veranstaltungen zu untersagen, wurde vor allem kleineren künstlerischen Initiativen von einem Tag auf den anderen der Boden weggezogen. Und mit einem Schlag wurde die zentrale Bedeutung eines (zahlenden) Publikums deutlich, ohne das der Betrieb rasch seine Existenzberechtigung verliert.
Die betroffenen Künstlerinnen und Künstler versuchen ihre Kunst in neuen digitalen Formaten an den Mann beziehungsweise die Frau zu bringen. Und auch größere Kultureinrichtungen forcieren ihre virtuellen Auftritte, in der Hoffnung, damit ihr Publikum an der Stange zu halten. Gleichzeitig wird der Ruf nach staatlichen Hilfsprogrammen immer lauter, denen die grüne Staatssekretärin Ulrike Lunacek tapfer zu entsprechen versucht. Sie soll dafür sorgen, dass sich die Kunstschaffenden über den aktuellen Ausnahmezustand hinüberretten können. Nach dem Ende der Pandemie - so die Erwartung - würden sie wieder in einen Normalbetrieb zurückkehren können.
Künstlerische Schieflage

Möglicherweise steht mehr auf dem Spiel. Zur Disposition steht das künftige Verhältnis zwischen Kunstproduzenten und -rezipienten, das mit der Stilllegung des Betriebs neu verhandelt werden will. Noch überwiegt eine Logik, die zwar den Verlust des Publikums in den etablierten Räumen beklagt, aber doch meint - unter Zuhilfenahme digitaler Kanäle -, weitertun zu können wir bisher. Dahinter verbirgt sich eine prinzipielle Schieflage, die den Kunstschaffenden und ihrem Publikum im Kulturbetrieb völlig unterschiedliche Wertigkeiten zuweist: Auf der Bühne wird die Kunst verhandelt, um die geht es. Das Publikum ist bloß (zahlendes) Beiwerk, dem - jedenfalls in Bezug auf das Kunst-Machen - keine tiefere Bedeutung zukommt. Im Gegenteil: Kunst wird fürs Publikum produziert und nicht mit ihm.
Die unterschiedliche Wertigkeit zeigt sich etwa daran, dass dem Publikum aus Künstlersicht ein defizitärer Charakter zugesprochen wird. Eltern sollen ihren Kindern von klein auf kulturelles Verhalten beibringen, die Schule soll die nötigen kulturellen Kompetenzen vermitteln. Auch danach soll im Rahmen vielfältiger Kunst- und Kulturvermittlungsprogramme weiter gelernt werden, um möglichst viel über Kunst und Kunstschaffende zu wissen.
Ganz anderes bei Künstlerinnen und Künstlern. Ihr erster Auftrag ist es nicht, sich für ihr Publikum zu interessieren und dabei möglichst viel und immer wieder neu zu lernen. Ihr Selbstverständnis besteht in der Fähigkeit, Kunst zu machen. Ihr Lernen bezieht sich damit auf den Erwerb spezifischer Kunsttechniken. Darüber hinaus beschäftigten sie sich mit sich selbst oder arbeiten sich an ihresgleichen ab, um damit ein unverwechselbares künstlerisches Profil zu gewinnen.
Dass sie mit ihren höchst individuellen Ambitionen immer schon ein Produkt von außen kommender gesellschaftlicher Erwartungen sind, kann da ausgeblendet werden. Ebenso die Verfasstheit des Publikums und damit derjenigen, für die sie Kunst machen. Diese spielen bei ihren künstlerischen Ambitionen keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle. Ganz im Gegenteil. Sie würden bei der mühsamen Suche nach der eigenen künstlerischen Identität nur ablenken oder diese korrumpieren.
Das aber bedeutet, dass Kunstschaffende in der Regel von ihrem Publikum nichts wissen, ja nichts wissen wollen oder gar dürfen und so in Bezug auf ihr Publikum über wenig Lernerfahrung verfügen. Mit ihm soll sich der nicht künstlerische Teil des Betriebs beschäftigen, etwa die Marketingabteilungen, deren Aufgabe darauf reduziert wird, die Häuser irgendwie voll zu bekommen.
Lernunwilligkeit der Künstler
Der wachsende Sektor der Kunst- und Kulturvermittlung hat diese strukturelle Schieflage zuletzt in Frage gestellt. Für ihn stellt das Kunst-Machen eine Form der sozialen Praxis dar, die allen Beteiligten - den Produzenten ebenso wie den Rezipienten - eine aktive Rolle zuweist. In ihren Formaten scheint zumindest in Ansätzen der traditionelle Gegensatz zwischen dem Kunstanspruch der Kunstschaffenden auf der einen Seite und dem Subjektanspruch des Publikums auf der anderen Seite in Frage gestellt.
Die meisten Künstlerinnen und Künstler sind auf diese Herausforderungen nicht vorbereitet. Schon in ihrer Ausbildung werden ungebrochen Berufsbilder verhandelt, die sie aufgrund ihres besonderen Potenzials zur großen Ausnahme stilisieren. Von denen, die als Publikum diesen Standards folgen sollen, erfahren sie - bis auf wenige Ausnahmen - nichts. Obwohl diverse Avantgarde-Strömungen des 20. Jahrhunderts immer wieder Brückenschläge zwischen Kunst und Leben und damit zwischen Machern und Nutzern versucht haben, sind diese bis heute im Mainstream nicht angekommen. Selbst Begrifflichkeiten wie "Kulturelle Teilhabe", "Community Arts" oder "Artistic Citizenship" (für beide gibt es bis heute nicht einmal handhabbare deutsche Begriffe) sind selbst für die junge Künstlergeneration Fremdwörter. So kann es zu keiner nennenswerten Weiterentwicklung künstlerischer Qualitätsstandards kommen. Diese würde sich nicht bloß auf die Bewertung künstlerischer Artefakte beschränken, sondern die Qualität der Kommunikation derer, die sich gemeinsam auf künstlerische Prozesse einlassen, mitberücksichtigen.
In den gegenwärtigen verzweifelten Versuchen, mit ihrer Kunst "ihr" Publikum zumindest im digitalen Raum zu erreichen, geben Künstlerinnen und Künstler ungewollt ein deutliches Zeichen der eigenen Lernunwilligkeit. Während viele Menschen vor ihren Tablets gerade dabei sind, vielfältige Möglichkeiten der digitalen Kommunikation und Interaktion auszuprobieren, sich anzueignen und damit auch ihr kulturelles Verhalten nachhaltig zu verändern, meinen streamende Kunstschaffende, mit temporärem Switchen auf einen anderen Kanal, "ihre" Kunst möglichst 1:1 in ein anderes Medium und damit ihr traditionelles Verhältnis zum Publikum perpetuieren zu können.
Vom Sockel herabsteigen
Doch die Chancen dafür sinken von Tag zu Tag. Auch die Welt der Kunst wird nach der Pandemie eine andere sein. "Überleben" werden wohl weniger die Künstlerinnen und Künstler, die dank staatlicher Hilfsprogramme meinen, so weitertun zu können wie bisher. Neue Entwicklungschancen sehe ich für jene, die den kurzen Moment des gesellschaftlichen Stillstands dazu nutzen, sich intensiver mit denen auseinanderzusetzen, von denen sie behaupten, sie wollten ihnen mit ihrer Kunst etwas sagen. Wollen sie weiterhin eine signifikante Funktion in der Gesellschaft wahrnehmen, dann werden sie nicht umhin können, vom Sockel der Selbstdarstellung herabzusteigen und sich selbst als permanent Lernende zu präsentieren. Das liefe auf eine künstlerische Haltung hinaus, die dem Publikum in seiner Subjekthaftigkeit dieselbe Wertschätzung entgegenbringt wie sich selbst.
Der Gewinn: Kunstschaffende wären dann das, was sie vorgeben zu sein. Menschen, die sich im Vollsinn des Wortes auf die Unberechenbarkeit des Lebens einlassen, um ihm in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen eine mehr oder weniger relevante sinnlich-ästhetische Erfahrung abzutrotzen. Dieser Zugang zur Welt steht allen Menschen prinzipiell offen. Also gehen Künstlerinnen und Künstler als Selbst-Lernende aus dieser Begegnung mit ihrem Publikum ebenso verändert (und hoffentlich bereichert) heraus wie diejenigen, denen sie diese Lernerfahrung schon bisher völlig selbstverständlich zugemutet haben.
Dass damit ein feudales Kunstverständnis mehr als 100 Jahre verspätet in demokratischen Verhältnissen ankäme, sollte in Zeiten des Wiedererwachens autoritärer Hoffnungen auch politisch nicht unterschätzt werden.