Gaza - Nafez Saleh al Nazar wirkt nervös, als er die Erklärung verliest und religiöse Verse rezitiert. Manchmal stockt er, starrt in die Kamera. Der 26 Jahre alte Palästinenser und zweifache Vater erklärt gerade, dass er ein Selbstmordattentat begehen wird. Dann fährt er in einem mit Sprengstoff bepackten Lastwagen zu einem israelischen Militärposten.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 23 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Die militante Hamas-Bewegung veröffentlicht später ein Video, das zeigt, wie das Fahrzeug explodiert, noch bevor es den Posten erreicht. Nazar wird getötet. Sonst kommt niemand zu Schaden.
In der islamischen Welt wird derzeit heftig diskutiert, ob und wie Selbstmordattentate mit dem Glauben vereinbar sind. Die Diskussion macht den Unterschied deutlich zwischen einem von offiziellen Stellen unterstützten Islam, der zu Verhandlungen mit Israel tendiert und einem Islam, der sich gegen den Friedensprozess wendet, die Zerstörung Israels fordert und in jedem Israeli - ganz gleich ob Mann, Frau oder Kind - ein legitimes Ziel sieht. Begonnen hat die Debatte, als der Großmufti von Saudiarabien, Abdulaziz al Sheik, im April erklärte, dass jeder Akt der Selbsttötung vom Islam strikt verboten sei. Konsequenterweise handle damit auch jeder gegen die moslemische Lehre, der sich inmitten seiner Feinde in die Luft sprenge. Selbstmordattentäter sollten auch nicht nach islamischer Sitte beerdigt werden.
Scheich Mohammed Sayed al Tantawi, Großscheich der Kairoer Al-Azhar-Universität, der höchsten Autorität im sunnitischen Islam, vertrat wenig später die These, dass Bombenattentate legitim seien, solange sie nur gegen Soldaten und nicht gegen Frauen oder Kinder verübt würden. Viele andere Kleriker vertreten auch entgegengesetzte Meinungen.
Der Großmufti von Jerusalem, Scheich Akrama Sabri, erklärte: "Moslems glauben an einen Jüngsten Tag, daran, dass der Märtyrertod mit dem Einzug ins Himmelreich belohnt wird und dass ein Märtyrer in den Augen Gottes lebt".
70 Prozent Befürworter
Ungeachtet aller theologischen Kontroversen haben Selbstmordattentate auch eine gewaltige öffentliche Wirkung. Beisetzungen von Attentätern im Gaza-Streifen oder im Westjordanland ziehen Tausende von Teilnehmern an und werden zu antiisraelischen Demonstrationen. Radikalen Organisationen wie Hamas oder "Islamischer Heiliger Krieg" (Jihad Islami) fehlt es nicht an Freiwilligen, die begierig darauf sind, sich für die palästinensische Sache in die Luft zu jagen. Oft sind es junge, ledige und arbeitslose Männer, für die der Heldentod die einzige Perspektive ist.
Bei den Palästinensern ist die Zahl der Befürworter von Selbstmordattentaten während des Vorjahres von knapp 25 auf etwa 70 Prozent angestiegen, sagt der palästinensische Meinungsforscher Ghassan Khatib: "Wie die Menschen über die Anschläge denken, hat nichts mit Religion oder Ideologie zu tun, sondern nur mit politischen Erwägungen".