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Himmelskundler im Feindesland

Von Christian Pinter

Wissen
Je nach Belichtungszeit hält die Fotografie bei einer Sonnenfinsternis rosafarbige Protuberanzen oder die silbrige Korona fest, wie hier zum Beispiel bei der Finsternis 1981 in Sibirien.
© Pinter

Am 21. August 1914 gab es eine totale Sonnenfinsternis: Deutsche Astronomen wollten den Himmel auf der Krim beobachten, wurden aber vom beginnenden Weltkrieg daran gehindert - und landeten in Mistelbach.


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Europa im Frühjahr 1914: Noch herrscht Frieden. Astronomen fiebern der totalen Sonnenfinsternis vom 21. August entgegen. Der Schatten des Mondes soll in weniger als zweieinhalb Stunden von Nordkanada aus nach Ostindien marschieren - über Grönland, den Nordatlantik, Norwegen, Schweden, Russland, die Türkei, Persien und Pakistan. Der Schattenpfad ist höchstens 170 km breit.

Nirgendwo dauert die totale Phase der Verfinsterung mehr als zwei Minuten und 15 Sekunden. Dennoch plant die Hamburger Sternwarte eine Expedition. Das Wetter in Mittelschweden und im Gebiet um Trapezunt erscheint dem Direktor Richard Schorr zu unsicher. Er entscheidet sich für die südrussische Halbinsel Krim.

Im weiten Garten der Sternwarte baut man die Geräte probeweise auf. Ein mächtiges Doppelfernrohr von dreieinhalb Metern Brennweite richtet sich wie ein Geschütz in den Himmel. Am Boden ruhen drei rohrlose Horizontalteleskope. Ein uhrwerkgesteuerter Spiegel wirft das Licht des Himmelsobjekts auf die Objektivlinse. Dann laufen die Strahlen parallel zur Erdoberfläche bis zu 40 Meter weit, um schließlich auf schwere Fotoplatten im Format 80 mal 80 cm zu treffen.

Ledertücher, über eine Serie von Holzrahmen gespannt, wehren etwaiges Streulicht ab. Mit ähnlicher Gerätschaft hat Schorr bereits die Sonnenfinsternis von 1905 in Algerien studiert.

Das faszinierende Bild

Weilt man im schmalen Totalitätspfad, rast der Mondschatten aus Richtung West mit rund 2000 km/h daher. Die Sonne gerät zur schlanken Sichel. Pflanzen schließen ihre Kelche, Tiere ziehen sich zurück. Die Temperatur fällt. Leichter Wind kommt auf. Unheimliche Stille legt sich über die Landschaft.

Dann verschwindet auch der letzte Sonnenstrahl hinter dem Mond. In dieser kurzen, totalen Phase lässt sich mit Bleistift Geschriebenes plötzlich nicht mehr erkennen. Alles ist in schwaches, aschfarbenes Licht getaucht. Der Himmel rund um die verdeckte Sonne hat das dunkelste Blau angenommen. Dort erblickt man Planeten und helle Sterne.

Jetzt, wo der Mond die gesamte gleißende Photosphäre der Sonne bedeckt, werden die viel matteren, darüber ruhenden Atmosphäreschichten sichtbar: Die überaus schmale rosenfarbige Sonnen-Chromosphäre scheint Protuberanzen von gleicher Farbe emporzutreiben. Die ragen wiederum in die Korona hinein: Dieses weite silbrige Gebilde wird von teils geradlinigen, teils gebogenen Strahlen strukturiert. Nur allzu rasch schießt der erste Sonnenstrahl am anderen Mondrand hervor. Er schenkt dem Firmament das vertraute helle Blau. Darin ertrinken Chromosphäre, Protuberanzen und Korona wieder.

Samuel Williams, Professor an der Harvard-Universität in Cambridge, Massachusetts, wollte die Sonnenfinsternis vom 27. Oktober 1780 untersuchen. Sie fand mitten im US-amerikanischen Unabhängigkeitskrieg statt. Der Beo-bachtungsplatz in der Penobscot-Bucht lag hinter den feindlichen Linien. Der britische Kommandant ließ Williams passieren - der Wissenschaft zuliebe.

So richtig vom Finsternisfieber gepackt wurden die Astronomen aber erst am 8. Juli 1842. Damals zog die Totalitätszone quer durch Europa, auch über Wien. Seither wollten Himmelskundler der alten Welt möglichst keine Finsternis mehr verpassen. Alle paar Jahre verpackten sie die schweren, empfindlichen Instrumente und begaben sich auf Reisen - wenn nötig um den halben Erdball. In den wenigen Minuten der Totalität prägten sie sich die Positionen der Protuberanzen und den Umriss der Korona ein. Dann hielten sie ihre Eindrücke in Worten und in Skizzen fest.

Erkenntnisfortschritte

Am 28. Juli 1851 lag die Sternwarte von Königsberg im Totalitätspfad. Dort gelang die erste Daguerreotypie der Korona. Ab der Finsternis vom 18. Juli 1860 in Kanada und Spanien bemühte man die Fotografie regelmäßig. Am 18. August 1868 setzten Norman Lockyer und Jules Janssen in Indien erstmals die junge Spek-tralanalyse ein. Eine rote und eine schwächere blaue Spektrallinie zeigten leuchtenden Wasserstoff in den Protuberanzen an. Eine seltsame gelbe Linie wies auf ein völlig unbekanntes Element hin. Man taufte es "Helium" - nach "Helios", dem altgriechischen Namen der Sonne.

Bei der Finsternis vom 7. August 1869 machte Charles Young, USA, eine grüne Spektrallinie in der Korona aus. Sie schien ebenfalls die Existenz eines neuen Elements zu verraten. Sieben Jahrzehnte später sollte sich dieses "Coronium" jedoch als Trugbild entpuppen: Die grüne Linie stammt vielmehr von Eisenatomen, denen die extreme Hitze in der Korona die Hälfte der Elektronen geraubt hat.

Der erwähnte Jules Janssen wollte auch die Sonnenfinsternis vom 22. Dezember 1870 in Nordafrika beobachten. Doch im deutsch-französischen Krieg wurde seine Heimatstadt Paris belagert. Obwohl ihm die Deutschen freies Geleit anboten, zog Janssen lieber im Heißluftballon über die feindlichen Linien hinweg. Kurz danach kapitulierte Paris. Damals schlossen sich Baden, Bayern, Württemberg und Hessen dem Norddeutschen Bund an. So entstand das Deutsche Reich: Der preußische König ließ sich zum Kaiser proklamieren - und das ausgerechnet in Versailles.

Später verglich Janssen die Finsternisse vom Dezember 1871 und vom Juli 1878. Dabei erkannte er: Die jeweilige Gestalt der Korona hängt stark von der Sonnenaktivität ab. Doch viele Rätsel blieben ungelöst. Welche Kräfte formen die Protuberanzen und die Korona? Wieso ist die Sonnenatmosphäre ausgedehnter als der Sonnenball selbst? Und woher bezieht die Sonne ihre Energie?

Am 20. Juni 1914 legt der Dampfer "Chios" mit 15 Tonnen Expeditionsausrüstung in Hamburg ab. In Wien stirbt tags darauf die Friedensaktivistin Bertha von Suttner. Sieben Tage später fallen die Schüsse von Sarajevo.

Am 24. Juli nehmen sechs Hamburger Astronomen die Schiffsladung in Odessa in Empfang. Sie weisen unter anderem eine Empfehlung der russischen Regierung vor. Dennoch hilft der Direktor der St. Petersburger Pulkowo-Sternwarte lieber mit, die 131 Holzkisten durch den russischen Zoll zu schleusen.

Am 28. Juli geht es mit dem Dampfer nach Feodosia im Südosten der Krim. Österreich-Ungarn erklärt zur gleichen Zeit Serbien den Krieg. Die Wissenschafter besteigen Lastwägen und lassen sich landeinwärts nach Stary Krym chauffieren: Die Tartaren kürten es im 13. Jahrhundert zur Hauptstadt des Krimkhanats. Anderswo auf der Halbinsel rüsten sich Astronomen aus München, Berlin, Potsdam, England, Frankreich und Argentinien für die Finsternis.

Gefangen in Russland

Die Hamburger bauen ihre Großgeräte schon am 1. August 1914 auf. Am nächsten Tag erfahren sie von der Kriegserklärung ihres Landes an Russland. Die Himmelskundler befinden sich somit im Feindesland. Am 3. bauen sie ab. An diesem Tag erklärt das Deutsche Reich auch Frankreich den Krieg. Am 4. werden die deutschen Astronomen ausgewiesen, denn ihr Land überfällt gerade das neutrale Belgien.

Ihre Gerätschaft zurücklassend, reisen die Wissenschafter am 5. August im überfüllten Dampfer zurück nach Odessa. Dort werden sie von der russischen Polizeibehörde als Kriegsgefangene betrachtet. Schorr spricht eindringlich beim Stadthauptmann vor, pocht auf seine Empfehlungsschreiben. So erreicht der knapp 47-Jährige wenigstens die Freilassung der älteren, voraussichtlich nicht mehr kriegstauglichen Wissenschafter. Schließlich dürfen Schorr, ein Hamburger Kollege, vier Potsdamer Astronomen und vier Frauen Odessa verlassen. Die Bahn bringt sie durch Rumänien nach Österreich-Ungarn.

Der damals an der Universitätssternwarte tätige Astronom Johann Holetschek bereitet die Leser der "Wiener Zeitung" auf das Himmelsereignis vor. Dabei erinnert er auch an eine Geschichte, die einst der griechische Historiker Herodot erzählte. Demnach rangen die Lyder und Meder in Kleinasien fünf Jahre lang ohne Entscheidung miteinander. Als der Tag während einer Schlacht plötzlich zur Nacht wurde - mutmaßlich wegen der Sonnenfinsternis vom 28. Mai 585 v. Chr. - erschraken die Kämpfenden zutiefst. Ihre Herrscher schlossen daraufhin Frieden.

Die Kriegsfinsternis vom 21. August 1914 hat hingegen keinen Einfluss auf die Kampfhandlungen. An diesem Tag beginnt das Massaker von Tamines. Nach einem Scharmützel mit Soldaten und nachdem Dorfbewohner "Es lebe Belgien!" und "Es lebe Frankreich!" gerufen haben, treiben die Deutschen rund 400 Zivilisten zusammen. Sie werden erschossen. Am Balkan tobt die neuntägige Schlacht von Cer: Nach 18.500 Toten und Verwundeten wird sich Österreich-Ungarn aus Serbien zurückziehen.

Station im Weinviertel

In Österreich ist die Sonne bestenfalls zu acht Zehntel bedeckt. Es bleibt taghell. Die Wiener kümmern sich an diesem Freitag nicht allzu sehr um das Himmelsereignis. Wie ein Mitarbeiter der "Arbeiter-Zeitung" notiert, sieht man auf den Straßen zwar hie und da Leute mit allerlei geschwärzten Gläsern: Die meisten eilen ihres Wegs jedoch dahin, ohne zum Himmel zu blicken.

Die Urania-Sternwarte zählt mehr als hundert Besucher. Das Teleskop im Kuppelraum projiziert das Sonnenbild auf einen weißen Schirm. Sternwarteleiter Gideon Riegler wird sechs Tage später in Galizien fallen.

Um 13.30 Uhr liegt die dicke Sonnensichel wie eine Barke am Himmel. Schorr und seine Begleiter reisen gerade durchs Weinviertel nördlich von Wien. Als ihr Zug am Bahnhof hält, erklären sie das Himmelsereignis traurig zur "Finsternis von Mistelbach".

Drei ihrer in Odessa verbliebenen Kollegen dürfen Ende August ausreisen; darunter auch Kasimir Graff: Er wird 1928 die Leitung der Wiener Universitätssternwarte übernehmen. Zwei Hamburger, ein Münchener und ein Berliner Astronom gehören allerdings der deutschen Landwehr bzw. der Reserve an. Sie werden in Lagern an der Wolga interniert, gefolgt von Einzelhaft in St. Petersburg. Die vier kommen im Austausch frei - ein knappes Jahr nach der Sonnenfinsternis.

Christian Pinter, geboren 1959, lebt als freier Journalist in Wien und schreibt seit vielen Jahren über astronomische Themen im "extra". Im Internet unter: www.himmelszelt.at