Seit Beginn der Corona-Krise wandelt sich das Österreich-Bild und erinnert an die 50er Jahre. Ein (foto-)historischer Rückblick.
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Der knallgelbe Postbus parkt vor der Almhütte. Die Einheimischen erwarten die Fremden aus der Stadt. Mann und Frau im Trachtenlook, Heugabel auf der Schulter, ein Kind an der Hand. Berge, Himmel, Natur. Mit wenigen markanten Pinselstrichen hielt der Wiener Grafiker Walter Harnisch im fernen Jahr 1957 die Begegnung zwischen Stadt und Land fest. Der Anlass: Der Postbus feierte in diesem Jahr sein 50-jähriges Bestehen. Die Postkartenidylle war wörtlich zu nehmen: Sie wurde im Postkartenformat gedruckt und konnte auf die Reise geschickt werden. Neben der Sommerszenerie war auch eine Wintervariante im Angebot.
Träume in Grün
Aus heutiger Sicht mag diese Szene anachronistisch erscheinen, vollkommen aus der Zeit gefallen. Inzwischen ist der Postbus noch einmal 63 Jahre älter geworden. Längst reisen die Städter mehrheitlich mit dem eigenen Auto aufs Land und nicht mit dem Bus. Und dennoch rührt diese idealisierte Landidylle auch an der Gegenwart. Seit der Corona-Krise können wir eine fulminante Rückkehr des Landlebens beobachten, die Österreichbilder haben sich innerhalb kürzester Zeit massiv verschoben. Das urbane Österreich ist auf dem Rückzug, das ländliche Österreich auf dem Vormarsch. Wohin wir auch blicken, entdecken wir scheinbar ideale Szenen des ländlichen Lebens: einsame Bergwelten, lockende Seen, herrliche Wanderparadiese, kurz: Träume in Grün.
Eine kraftvolle Werbemaschinerie produziert neben Plakaten und Foldern vor allem Online-Bilder: Mit Hilfe subtiler Algorithmen spülen die sozialen Medien immer neue ländliche Österreich-Kulissen in unsere Timeline und Instagram-Accounts. Auf den ersten Blick sind es erfrischende Werbebilder, die dem urbanen Gast die Sommerfrischedestinationen am Land vorschlagen.
Wenn wir diese visuellen Botschaften aber etwas genauer unter die Lupe nehmen, werden noch weitere Bedeutungen sichtbar. Das ländliche Österreich ist beileibe kein neutrales Bild, sondern empfiehlt sich als heilender Gegenpart zur imaginierten Enge der Stadt. Das Land wird aber nicht nur als antistädtisches Refugium der Ruhe vorgestellt, sondern in Zeiten von Corona auch als Ort der Gesundung und der Entspannung nach der Krise: "Bald entspannt sich alles wieder." Mit diesem bewusst mehrdeutigen Slogan und dem Foto einer unberührten Berglandschaft, durch die zwei einsame Wanderer ziehen, wirbt etwa Schladming um Gäste.
Die wiederentdeckte Faszination des Ländlichen ist also durchsetzt mit dem Versprechen, draußen im Grünen und oben auf den Bergen nicht nur Erholung zu finden, sondern auch eine verloren gegangene Sicherheit. Österreichs Berge treten in der Corona-Krise als Fluchtorte in Erscheinung, die mit klassisch touristischen Botschaften assoziiert sind, wie Erholung, Natur, unberührte Landschaft, Weite. Die neuen Bilder des Ländlichen transportieren aber auch noch weitere Botschaften: Der soziale Abstand lasse sich draußen im Grünen leichter einhalten, das Land empfiehlt sich als Hort der Gesundheit.
Rurale Images
Aber auch einen nationalen Anstrich haben manche der gegenwärtigen Werbebilder: etwa, wenn die rot-weiß-roten Nationalfarben sich immer öfter über die heimatlichen Berglandschaften legen oder die Großglockner Hochalpenstraßen AG plötzlich mit großformatiger Außenwerbung in Wien um Besucher buhlt. War die Großglocknerfahrt in den letzten Jahren werbemäßig vor allem ausländischen Touristen nahegelegt worden, so wird nun der Großglockner (neuerlich) zur national codierten heimischen Berglandschaft. Damit werden untergründig auch Bilder reaktiviert, die in längst vergangenen Tagen bereits für rurale Österreich-Images herangezogen wurden.
Blenden wir noch einmal zurück ins Jahr 1957, als die Postbus-Werbung einlud, im gelben Zubringer Österreichs letzten Winkel zu besuchen. Auch wenn dies auf den ersten Blick nicht deutlich ist: Auch die damalige Werbekampagne hatte eine nationale Botschaft. Zwei Jahre nach dem Staatsvertrag und dem Abzug der alliierten Besatzungsmächte galt es, Österreich unter nationalen Vorzeichen neu zusammenzuschweißen.
Die symbolische Klammer, um das neue Österreich zusammenzuhalten, war nicht etwa die Hauptstadt Wien, sondern vielmehr das ländliche Österreich: Berge, Bauern, Landschaft. Wichtige Vorarbeiten in Richtung eines ländlich geprägten Österreich-Pa-triotismus hatte bereits in den 1930er Jahren die konservative Regierung des "Ständestaats" geleistet. Ihr ging es darum, sich zuerst von der als "sozialistisch" und "jüdisch" gebrandmarkten Metropole Wien abzugrenzen und später auch vom nationalsozialistischen Deutschland.
In diesem national fundierten Schachzug rückte Österreich dezidiert von städtischen Selbstbildern ab und fand für den geschrumpften Kleinstaat neue - meist klischeehafte - Bilder des Ländlichen. Als nationale Landschaften galten etwa die Wachau, aber auch die Berge, die durch neue monumentale Straßenbauprojekte erschlossen wurden. Insbesondere die 1936 eröffnete Großglockner Hochalpenstraße galt als patriotisches Aushängeschild der christlichsozialen Regierung und zugleich als Landschaftsikone, die über die staatliche Fremdenverkehrswerbung verbreitet wurde.
Antiurbaner Topos
In den 1950er Jahren aber war der neue Österreich-Patriotismus keine ausschließliche Sache der Konservativen. Auch die Sozialdemokratie mischte bei dieser Neuausrichtung der symbolischen Bilder tatkräftig mit. "Die Bauern und die Arbeiter Österreichs müssen einig sein. Nur dann geht es dem österreichischen Volk gut", so lautete die Forderung der SPÖ im Jahr 1951. In den Bildbänden der Gewerkschaft wurde in der Nachkriegszeit in pathetischen Bildern das schöne, ländliche Österreich gefeiert. Der antiurbane Topos des Heimatdiskurses war nun - der Sozialpartnerschaft zuliebe - auch innerhalb der österreichischen Linken konsensfähig.
Vor diesem Hintergrund mag es nicht verwundern, dass der Grafiker Walter Harnisch, der 1957 die Werbelinie "50 Jahre Postauto in Österreich" konzipiert hatte, ein politisch engagierter Sozialdemokrat war, der seit den 1930er Jahren parteipolitische Werbekampagnen gestaltet hatte. Sein "Atelier Harnisch" gehörte in der Nachkriegszeit zu den größten Wiener Werbeagenturen.
Seit 1957 war er jahrzehntelang für die "Österreichische Verkehrswerbung" tätig, die damals dem Bundesministerium für Handel und Verkehr unterstand. Unter anderem betreute Harnisch zahlreiche Werbeaktionen der österreichischen Post und Bahn, unter anderem auch die genannte Kampagne "50 Jahre Postauto in Österreich". Gedruckt wurde die eingangs erwähnte Postkarte übrigens vom sozialdemokratischen Vorwärts Verlag.
Die Vorzeichen des coronabedingten neuen Österreich-Patriotismus unter ländlichen Vorzeichen sind natürlich ganz andere als in den 1950er Jahren. Der Ruf "Hinaus aufs österreichische Land!" war in der Nachkriegszeit ein fortschrittsoptimistischer Ruf des beginnenden Massentourismus, aber auch ein Versuch, die klaffenden Wunden der noch nicht weit zurückliegenden kriegerischen Vergangenheit patriotisch zu kitten. Während heute die Spuren der technischen Erschließung der Landschaft geflissentlich kaschiert werden, galten in der Nachkriegszeit Straßen, Lifte und Bauwerke im Gebirge als Zeichen des Fortschritts. Im Vordergrund wurde häufig die Technik gezeigt: die Liftständer, das Postauto, im Hintergrund prangte die heimatliche Landschaft.
Im Jahr 2020 verspricht der Slogan "Hinaus aufs Land!" vor dem Hintergrund der Gesundheitskrise und der um sich greifenden Unsicherheit vordergründig eine nahegelegene, sichere, heimatlich Sommerfrische. Aber in diesen Slogan ist noch weit mehr hineingepackt. Die mit großem publizistischen Aufwand inszenierte neue österreichische Bergheimat ist auch ein subtiler Gegenentwurf zu der inzwischen bedrohlich erlebten gnadenlosen Globalisierung, die nicht nur Produkte und Dienstleistungen, sondern auch Arbeit und Wohlstand (und im Gegenzug auch die Armut) je nach Bedarf zwischen den Kontinenten und den Märkten verschiebt.
Da diese Globalisierung nicht unwesentlich zur rasanten Verbreitung der neuen Krankheit rund um den Erdball beigetragen hat, zieht man vielerorts die Notbremse - Grenzen werden wieder geschlossen, Reisewarnungen werden erlassen. Begleitet werden diese Maßnahmen in Österreich, aber auch in vielen anderen Ländern, von neuen Bildern des Nationalen. Das Schöne, Gute und Gesunde lieg nun, so heißt es, in der Nähe, in unserem eigenen Land.
Wie folgenreich diese Symbolpolitik des Ländlichen sein wird, ist noch nicht abzusehen. Wird die Reise-Sehnsucht, die jahrelang im fernen Ausland gestillt wurde, wiederkehren, wenn ein Impfstoff gegen Corona gefunden wurde? Oder werden sich die neuen ländlichen Österreich-Bilder als haltbar erweisen? Wir werden sehen.
Anton Holzer, geboren 1964, ist Fotohistoriker, Publizist, Ausstellungskurator und Herausgeber der Zeitschrift "Fotogeschichte". www.anton-holzer.at