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Hirnschrittmacher für immer mehr Anwendungsgebiete

Von Wolfgang Kappler

Wissen

Seit Mitte der 90-er Jahre finden die so genannten Hirnschrittmacher eine immer breitere Anwendung. Durch Stromimpulse dämpfen sie gezielt überaktive Hirnbereiche und reduzieren so zum Beispiel die durch Parkinson-Krankheit, Multiple Sklerose oder Dystonien verursachten typischen Bewegungsstörungen. An den Universitätskliniken Köln und Bonn wird der in der Bauchhöhle implantierte und durch hauchdünne Drähte mit dem Gehirn verbundene Impulsgeber inzwischen sogar im Rahmen von Studien gegen Angst- und Zwangsstörungen sowie bei Depressionen eingesetzt.


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Dabei ist die Wirkung der Schrittmacher-Systeme umso besser, je genauer die Elektroden platziert werden. Zwei forschende Unternehmen haben in Kooperation mit führenden Neurochirurgen ein innovatives Navigationssystem entwickelt, das während der Operation die zu stimulierenden Areale so exakt aufspürt, dass es sogar die Aktivität einzelner Hirnzellen messen kann. Denn die exakte Bestimmung des Zielgebietes für die Schrittmacherelektroden ist nicht unproblematisch.

Phänomen "brain shift"

Grundlage sind zunächst Aufnahmen mit dem Computer- oder Kernspintomographen, die mit Bildern anatomischer Atlanten abgeglichen werden. So bestimmte Koordinaten sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, da das Gehirn während der Operation "zusammensackt" und damit seine Form ändert, ein Phänomen, das Neurochirurgen als "brain shift" bezeichnen. Durch diesen Effekt weichen oft die vor dem Eingriff ermittelten Koordinaten von den tatsächlichen Verhältnissen während der Operation ab.

Die daraus möglicherweise resultierende Fehlplatzierung der Stimulationselektroden kann den Therapieerfolg verringern und macht eventuell korrigierende Folgeoperationen erforderlich. Neurochirurgen vergewissern sich deshalb mit Probereizungen, ob die Koordinaten richtig sind. Dazu messen sie das Entladungsverhalten der in Frage kommenden Hirnkerne. Diese Muster sind für jeden Kern charakteristisch. Gängige Sonden mit hohem elektrischem Widerstand erkennen dabei zwar, ob innerhalb eines Hirnkerns mehre Zellen im Verbund aktiv sind, sie können aber nicht ermitteln, welche Einzelzellen übermäßig "feuern" und verrückt spielen.

Verwendet man Sonden mit niedrigem Widerstand, erlauben die Messdaten keinen Rückschluss auf die generelle Aktivität im Zielgebiet. Der Trec Scanner, den die Thomas Recording GmbH in Gießen zusammen mit der Bleistein-Rohde Systemtechnik in Pohlheim entwickelt hat, ermöglicht mit einer neuartigen Vierkanal-Mikroelektrode erstmals beide Messungen. Während die nur 100 Mikrometer feine Sonde über einen patentierten Vortrieb in das Gewebe eindringt, wird das Zielgebiet exakt gescannt. Das innovative Neuronavigationssystem ist bereits erfolgreich im Einsatz, unter anderem an der Berliner Charité.

Aber auch hinsichtlich des eigentlichen Hirnschrittmachers haben deutsche Forscher in jüngster Zeit wesentliche Verbesserungen erzielt. So hat der Kölner Neurochirurg Prof. Volker Sturm gemeinsam mit Elektronikern um Prof. Peter Tass am Forschungszentrum Jülich die Weichen für einen nach Bedarf arbeitenden Hirnschrittmacher gestellt. Tass: "Die derzeitigen Hirnschrittmacher schalten überaktive Hirnregionen mit einem elektrischen Dauerreiz aus. Zittern ist aber ein Zustand, der nicht ständig anhält. Unser Ziel muss also eine schonendere Stimulation, eine bedarfsgerechte Desynchronisierung der Überaktivität sein."

Gezielte Gegenimpulse

Die Forderung ist berechtigt, denn, so hat sich etwa im Falle der Behandlung des essentiellen Tremors gezeigt, Nervenzellen gewöhnen sich an den Dauerreiz, Überaktivitätsmuster werden von anderen Hirnregionen übernommen. Außerdem stimuliert der Dauerreiz ungewollt auch benachbarte Areale, was zu Nebenwirkungen wie Hautbrennen oder Sprachstörungen führen kann.

Grundlage des neuen Systems ist die Messung der Magnetfelder, die von den Strömen der krankhaft überaktiven Hirnzellen aufgebaut werden. Von diesen ausgehend rechnen die Forscher auf die elektrischen Ströme im Zellgewebe zurück und bestimmen die Stärke der Gegenimpulse, die der Hirnschrittmacher abgeben muss. So wird die Aktivität der Hirnkerne nicht dauerhaft unterdrückt, sondern lediglich desynchronisiert und dem tatsächlichen Funktionszustand nahe gebracht. Laut Tass taugt das System auch für die Grundlagenforschung. Mit dem neuen "Fenster zum Gehirn" erhoffen sich die Forscher neue Erkenntnisse zum besseren Verständnis neurologischer Krankheiten.