Für den Russland-Kenner Orlando Figes muss der Imperialismus Wladimir Putins besiegt und ein Ausweg gefunden werden.
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Der britische Historiker und ausgewiesene Russland-Experte Orlando Figes seziert in seinem jüngsten, im Klett-Cotta-Verlag erschienenen Buch: "Eine Geschichte Russlands" die russische Seele. Im Interview spricht er über das Verhältnis Russlands zur Ukraine.
"Wiener Zeitung": Ein halbes Jahr vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat Wladimir Putin einen Essay veröffentlicht: "Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern". Wollte er mit diesem Essay die Bevölkerung auf den kommenden Krieg vorbereiten?
Orlando Figes: Wenn man die Bevölkerung auf einen Krieg vorbereiten will, dann ist ein 24 Seiten langer, historischer und esoterischer Essay wohl nicht ganz der richtige Weg. Ich denke, für die Propaganda verfängt sein jetziges Narrativ, dass der Westen den Ukraine-Krieg gegen Russland nützt, viel besser. Ich kann natürlich nur raten, was sich in Putins dunkler Gedankenwelt abspielt, und da neige ich zur Auffassung, dass Putin von den Ideen, die er auch in diesem Essay ausbreitet, besessen ist: Die Ukraine sei nur eine Region in einem größeren Russland, die Ukraine habe keinen Anspruch darauf, eine eigene Nation zu sein, die ukrainische Sprache sei nur ein eine Art Dialekt. Das sind alles Argumente, die aus der klassischen russischen - imperialistisch geprägten - Geschichtsinterpretation des 19. Jahrhunderts stammen. Nach dem Kollaps der Sowjetunion hat Russland dann wieder auf dieses Geschichtsverständnis zurückgegriffen. Nicht nur Putin glaubt an die Idee des russischen Imperialismus, sondern die Mehrheit der politischen Eliten denkt ebenfalls so. Putin ist mit dem Glauben nicht alleine, dass die Ukraine nach dem Ende der UdSSR zu viel Land von der Sowjetunion bekommen hat, oder dass der Donbass und die Küstenregionen am Schwarzen Meer russisches Territorium seien.
Welche Position hatte in dieser Frage die Sowjetunion?
Russland war nie etwas anderes als ein Imperium. Russland hat keine Erfahrung als Nationalstaat, die Russische Föderation beinhaltet 150 verschiedene Nationalitäten. In der sowjetischen Periode gab es einen Fokus auf föderale Strukturen, es wurde die Freundschaft zwischen den Nationen, die Völkerfamilie unter dem Banner von Hammer und Sichel beschworen. Dennoch hat man sich von der imperialen Mythologie nie völlig gelöst. Die Sowjetunion hat sich als etwas ganz anderes als die USA verstanden. Die Ausbreitung der USA Richtung Westen sei mit einem Genozid an den Native Americans verbunden gewesen, bei Russlands Expansion Richtung Osten sei das völlig anders gewesen.
Besteht in Russland die Ur-Angst, dass die Russische Föderation weiter zersplittern könnte, dass also der Fragmentationsprozess, der 1991 mit dem Zerfall der Sowjetunion begonnen hat, sich eines Tages fortsetzen könnte?
Das bezweifle ich - auch wenn es Beispiele gibt, etwa den Versuch Tschetscheniens, Unabhängigkeit von der Russischen Föderation zu erlangen. Wir erinnern uns daran, mit welcher Brutalität die Separatisten in Tschetschenien bekämpft wurden. Es wurde in der Vergangenheit immer wieder darüber spekuliert, ob die Russische Föderation nicht zerfallen könnte, ob sich nicht einige Regionen von Moskau abwenden könnten. Die Rivalen Russlands haben stets auf eine solche Entwicklung gehofft, denn sie waren schon immer der Meinung, dass das russische Zarenreich, dann die Sowjetunion und heute die Russische Föderation einfach zu riesig und damit auch zu gefährlich wäre. Aber ich sehe ein solches Szenario derzeit schlichtweg nicht. Die Ressourcen der Russischen Föderation liegen in der Arktis oder in Sibirien. Der Öl- und Gassektor ist für rund 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und für fast 40 Prozent der staatlichen Einnahmen verantwortlich. Ein Staat von der Größe Russlands braucht einen starken Zentralstaat, um diese Reichtümer über das Land zu verteilen. Freilich: Dieser Staat ist korrupt und freilich, die Einkünfte aus den Energieexporten kommen vor allem den städtischen Regionen Moskau und St. Petersburg zugute. Aber was wäre, wenn zum Beispiel Burjatien ein eigenständiger Staat wäre, oder Inguschetien? Dann wäre die Armut in diesen Regionen vermutlich noch größer, denn diese Gebiete bekommen zumindest via Moskau Transferzahlungen aus der Staatsschatulle, und die Menschen finden Arbeit in den wohlhabenderen Gebieten der Russischen Föderation. Teil der Russischen Föderation zu sein, ist also für die ärmeren Regionen durchaus ein Vorteil.
Zurück zum Krieg in der Ukraine: Derzeit sieht es so aus, als könnten die Frontlinien über den Winter nun relativ stabil bleiben, beide Seiten haben ihre Befestigungen vor dem Einbruch des Winters verstärkt. Die Ukraine ist heute in der Lage, die Krim zu bedrohen, und die militärische Lage ist für die russische Armee derzeit alles andere als günstig. Halten Sie einen Kompromiss für denkbar?
Wir kennen nur die öffentlichen Aussagen aus Moskau oder Kiew und wissen daher wenig darüber, welche Spielräume Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj sehen. Aus der Sicht Kiews ist jeder Kompromiss, der mit Putin oder mit Putins Regime vereinbart wird, das Papier nicht wert, auf dem diese Vereinbarung geschrieben steht. Denn bisher - das ist die Erfahrung, die Kiew machen musste - hat Moskau sich nicht an geschlossene Vereinbarungen gehalten. Aber nehmen wir an, es käme tatsächlich zu einem Waffenstillstandsabkommen: Woher nimmt Kiew die Gewissheit, dass die russische Armeeführung nicht so ein Abkommen dazu nutzt, um die Truppe neu zu bewaffnen und aufzufrischen und um den Einheiten ein wenig Erholung zu gönnen und sie neu zu gruppieren, nur um bei nächster Gelegenheit wieder zum Angriff zu blasen? Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist daher zu einem existenziellen Krieg geworden, da gibt es derzeit überhaupt keine Optionen zu einem Kompromiss.
Was bringt Sie zu dieser Gewissheit?
Das Problem ist, dass Wladimir Putin nicht das geringste Interesse an einem solchen Kompromiss hat und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj so etwas nie durch die Werchowna Rada - das ukrainische Parlament - bekommen würde. Und eine Mehrheit bei einem Referendum wäre wohl noch illusorischer. Denn für einen Deal Land gegen Frieden oder für einen Verzicht auf einen Nato-Beitritt gibt es keine Mehrheit im Land. Zudem gibt es keinen wirksamen Druck von außen: Putin lässt sich von westlichen Sanktionen nicht von seinem Kriegskurs abbringen, und der Westen gibt der Ukraine eine Carte blanche und sendet die klare Botschaft an Kiew, dass nur die Ukraine darüber entscheiden soll, wie weiter zu verfahren ist. Und damit liegt die Entscheidung, was ein Sieg in diesem Krieg bedeutet, bei der Ukraine. Gleichzeitig muss man aber bedenken, dass Selenskyjs Bedingungen für einen Frieden unrealistisch sind. Der ukrainische Präsident verlangt zum Beispiel, dass all jene, die für Kriegsverbrechen die Verantwortung tragen, vor ein Kriegsverbrechertribunal zu stellen sind. Glaubt irgendjemand im Ernst, dass Wladimir Putin dem zustimmen würde? Oder: Eine Rückeroberung der Krim durch ukrainische Truppen könnte den Einsatz taktischer Nuklearwaffen durch Moskau zur Folge haben. Und was dann?
Somit bleibt als Ausweg nur eine Hoffnung auf eine Veränderung der Machtverhältnisse in Moskau?
Es ist tatsächlich denkbar, dass der Druck in Russland steigt und dass dies zu einer ernsten Krise führt. Ausgelöst könnte eine solche Krise durch einen Kollaps der Front oder durch Massenproteste wegen einer sich drastisch verschlechternden sozialen Lage werden. Im Moment sehe ich aber eine derartige Entwicklung nicht.
Wie beurteilen Sie die derzeitige Strategie Putins?
Die russische Armee versucht derzeit, mit den massiven Angriffen auf die Infrastruktur ganze Landstriche - vor allem die Städte - unbewohnbar zu machen. Das Leben in den Städten soll unmöglich gemacht werden, sodass die Metropolen schlussendlich evakuiert werden müssen. Damit soll eine weitere Flüchtlingsbewegung ausgelöst werden, die dann als Waffe gegen den Westen in Stellung gebracht werden soll. Es ist auch durchaus nicht undenkbar, dass Europa weitere fünf Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer beherbergen wird müssen. Ich habe aber kein Zweifel daran, dass die Ukraine weiterkämpfen wird und es gibt genauso wenig Zweifel daran, dass die russische Armee Schwierigkeiten haben wird, jene Territorien, die sie derzeit besetzt hat, längerfristig zu halten. Gleichzeitig rutscht der Westen in eine tiefe Wirtschaftskrise, in Großbritannien - woher ich stamme - sehen wir einem ziemlich dunklen Winter entgegen.
Großbritannien ist nicht zuletzt wegen des Brexit in einer besonders schwierigen Lage.
Aber auch die Europäische Union steht vor großen Problemen: Stagnation oder gar Rezession und zugleich Inflation. Wenn man in dieser Lage - bei knappen Ressourcen - zusätzlich fünf Millionen aus der Ukraine geflüchtete Personen beherbergen muss, dann könnte das durchaus zur Destabilisierung von Regierungen beitragen und das könnte bedeuten, dass in bestimmten Regionen eine noch größere Zahl von populistischen Regierungen an die Macht gelangen könnte.
Aber auch Putin muss mit Protesten und Widerstand rechnen.
Putin hat diesen Krieg unter der Annahme begonnen, dass die Ukraine für Russland mehr bedeutet als für den Westen. An dieser Meinung hat sich nach meiner Interpretation in Moskau nichts geändert. Man sollte auch nicht den Fehler machen, Russland zu unterschätzen: Man hat in der Vergangenheit immer wieder die russische Armee abgeschrieben oder Russland für besiegt erklärt. Und dann hat sich das Schicksal - oft unter enormen Opfern - gewendet. Putin knüpft an diese Opfer-Mythologie an.
In der Truppe gibt es aber augenscheinlich Unzufriedenheit.
Erst wenn die Unzufriedenheit über mangelnden Nachschub und die bekannten Probleme eines schlecht geführten Krieges hinausgehen, wird das für Putin zur Gefahr. Etwa wenn die Soldaten die berechtigte Frage stellen, wofür sie in der Ukraine eigentlich kämpfen sollen. Solange die russischen Soldaten glauben, sie würden gegen Nazis kämpfen, die die Ukrainer verblendet hätten, solange sie das Märchen glauben, dass die Ukrainer von Nationalisten verführt werden, die von den USA gesteuert werden, solange wird wohl eine ausreichende Zahl von Soldaten weiterkämpfen.
Die Sowjetunion ist nicht deswegen kollabiert, weil die Menschen revoltiert haben, für den Zerfall reicht es, dass die Menschen in Apathie verfallen und nicht mehr das tun, was sie tun sollen. Könnte so etwas in Russland passieren?
In der Sowjetunion sind die Menschen in Apathie verfallen, das stimmt. Und zwar schon lange vor dem Zerfall der UdSSR. Trotzdem hat sich das Regime erstaunlich lange gehalten. Den Menschen ist es unangenehm, darüber nachzudenken, dass russische Soldaten Ukrainerinnen und Ukrainer töten. Viele russische Bürger haben sogar Verwandte in Ukraine. Der russischen Bevölkerung dämmert aber langsam, was in der Ukraine vor sich geht. Aber es ist existenzgefährdend, dagegen zu protestieren. Wenn der Krieg lange genug andauert, dann wird die russische Wirtschaft nach und nach ermüden und die Menschen werden möglicherweise auch mehr und mehr bereit zum Widerstand und zum Protest. Aber solange man fürchten muss, für 15 Jahre im Gefängnis zu landen, nur, weil man auf die Straße gegangen ist, erfordert jede Form von Protest sehr viel Mut.
Welche Verständnisfehler hat der Westen in Bezug auf Russland gemacht?
Der größte Fehler war es, Russland mit der Sowjetunion zu verwechseln. Man hat 1991 die Russinnen und Russen als Täter und nicht als Opfer gesehen. Bei Georgien, der Ukraine, Estland oder Lettland war das anders. Diese Staaten haben sich alle als Opfer der Sowjetunion verstanden. Gleichzeitig muss man anerkennen, dass auch die Bürgerinnen und Bürger Russlands Opfer des kommunistischen Regimes waren. Man war im Westen der Meinung, dass es gefährlich wäre, wenn Russland wieder mächtig wird, weil daraus eben wieder eine expansionistische Unterdrückernation werden würde. In Russland hat dies dazu geführt, dass sich die Propaganda verbreitet hat, dass der Westen darauf aus sei, Russland zu zerstören. Putin hat diese Propaganda genutzt und bei den Menschen ist dies verfangen, weil sie sich noch gut daran erinnern konnten, wie die chaotische Einführung der Marktwirtschaft samt ökonomischer Schocktherapie in den 1990ern Millionen von Menschen um ihren bescheidenen Wohlstand gebracht hat.
Was ist nun zu tun?
Wir müssen die Ukraine weiter unterstützen. Die USA und Europa müssen dazu beitragen, dass Putin und der Putinismus besiegt wird. Dazu braucht es Entschlossenheit. Denn dieser Krieg wird noch einige Jahre dauern. Die westlichen Gesellschaften werden unter enormen Druck stehen: Die Regierungen müssen ehrlich mit ihren Bürgerinnen und Bürgern sein und sie darüber aufklären, was auf dem Spiel steht. Ohne Zweifel werden vermehrt Demagogen auf den Plan treten, die versuchen werden, die Menschen im Westen zu verunsichern.
Aber: An einem bestimmten Punkt wird es Klarheit darüber geben müssen, wie ein Sieg über Putin aussehen würde.
Orlando Figes ergründet in seinem Buch "Eine Geschichte Russlands" die russische Seele: Von den Mythen, die man sich über sich selbst erzählt, über die kulturellen Leistungen bis zur Weltmachtpolitik des 20. Jahrhunderts und unserer Gegenwart. "Russland ist ein Rätsel, verpackt in ein Geheimnis, umgeben von einem Mysterium", sagte der spätere britische Premier Winston Churchill in einer BBC-Radiosendung am 1. Oktober 1939. Orlando Figes hilft, das Rätsel Russland zu entschlüsseln.