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Historische Radgeschichten

Von Gerhard Strejcek

Reflexionen

Das Tourenradfahren erlebte um 1900 einen Boom - auch bei Ex-Burgtheaterdirektor Max Burckhard.


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Ganz ohne Abgase bewältigte der Jurist Max Eugen Burckhard, ein kulturbegeisterter Niederösterreicher, der in den 1890er Jahren eine illustre Karriere erlebt hatte, den ersten Streckenabschnitt der "Aurelia" an der ligurischen Küste, nachdem er seinen Job als Burgtheaterdirektor durch diverse Intrigen verloren hatte. Anders als Pier Paolo Pasolini 1959 und Pepe Danquart 2019, deren viel längere Autotouren im Film "Vor mir der Süden" dokumentiert sind, fuhr Burckhard 61 Jahre vor dem Bologneser Regisseur und hauptsächlich mit seinem eigenen Drahtesel die Strecke Genua-Ventimiglia nach Norden und dann noch weiter bis Nizza.

Im Département Var an der Côte d’Azur ging es dann ein Stück westwärts. Der einsame Radfahrer widmete sich in Porto San Maurizio in der heutigen Provinz Imperia mit offenen Augen und Ohren den Menschen, die ihn umgaben. Er lobte die sanften lombardischen und ligurischen Weine und er erkannte die Weisheit und Lebenskunst, die der vorgeblichen Langsamkeit der Küstenbevölkerung zugrunde liegt.

Lebendige Schilderung

Burckhard schrieb seinen Bericht in Nizza und veröffentlichte diesen in der Morgenausgabe der "Neuen Freien Presse" vom 7. Oktober 1898. Der Universitätslehrer war sehr belesen, wie eine posthume Notiz in mehreren Tageszeitungen vom Oktober 1912 belegte. Nach Burckhards Tod am 16. März 1912 fand im November desselben Jahres beim Wiener Buchhändler Hugo Heller die Auktion seiner Privat-Bibliothek von nicht weniger als 2.930 Bänden statt.

Der bibliophile Eigentümer war im Alter von nur 57 Jahren verstorben. Bedingt durch seinen körperlich-geistigen Verfall, der auch Freunden wie Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal und Josef Redlich auffiel, hatte sich der einst dynamische Dozent und Hauslehrer des Kronprinzen Rudolf in den 1910er Jahren an den Wolfgangsee zurückgezogen, nachdem er zuvor mehr als ein Jahrzehnt am Verwaltungsgerichtshof als Richter amtiert hatte.

Als Burckhard im Spätsommer 1898 sein Fahrrad in die damals noch private Südbahn verfrachtete, war er ein bekannter, aber nicht unumstrittener Mann. Der zeitweilige Theaterdirektor und universelle Jurist galt als eine der originellsten Erscheinungen an der Wiener Rechtsfakultät. "Lehmanns Adreßbuch" aus dem Jahr 1900 weist ihn als Director des Hof-Burgtheaters in Pension und als Hofrat des Verwaltungsgerichtshofes sowie Dozenten aus. Nach einer Tätigkeit im Unterrichtsministerium hatte Burckhard von 1890 bis 1898 als Theaterdirektor nach Adolf Sonnenthal übernommen, was zu großer Häme der Zeitgenossen führte. Böse Zungen behaupteten, er sei erst zweimal Gast im Burgtheater gewesen, ehe er die Leitung übernommen hatte. Eine unwahre Polemik, denn Burckhard hatte sich schon als junger Mann Fragestellungen des Theaters gestellt und er konnte auf ein routiniertes Team von Regisseuren zurückgreifen.

Der Rechtsgelehrte hat neben Ibsen-Dramen erstmals Schnitzlers "Liebelei" (1895) auf die Bühne gebracht, was aufgeschlossene Kreise aufhorchen ließ, aber einige Mitglieder der Herrscherfamilie verbitterte. Die Verbindung mit Schnitzler resultierte aus einer Nachbarschaft der Adressen, da die Wohnung von Schnitzlers Mutter, wo auch der Laryngologe und Dramatiker zeitweise als junger Assistenzarzt gewohnt hatte, in der Frankgasse 1 lag, Burckhards langjährigem Wiener Wohnsitz. In seiner 1905 erschienenen Sammlung "Quer durch Juristerei und Leben" zeigte sich Burckhard als aufgeschlossener und modern denkender Kommentator von Zeitfragen. Ein Potpourri an Artikeln befasst sich mit den Bildungswegen für Frauen, Biografien und dem Theater-Recht.

In seinem Feuilleton in der "Neuen Freien Presse" berichtet er über die Radtour, die er im Sommer von Genua aus Richtung Nizza unternommen hatte. Die anekdotenreiche und lebendige Schilderung zeigt, dass viele der von Burckhard beschriebenen Sehenswürdigkeiten noch heute bestehen und dass diese Region eine ausgedehnte Fahrradtour allemal wert ist.

Die ligurischen und lombardischen Dörfer am Fuße des Apennin präsentieren sich heute als Paradies für Radfahrer. Aus Imperia stammt auch der 1985 geborene Radrennfahrer Cristiano Salerno, der zwar nie den Giro gewann, der aber in Japan und in Katalonien erfolgreich war. Burckhard aber, der 1854 in Korneuburg geboren wurde, kann als ein Wegbereiter der heutigen, in jeder Hinsicht imponierenden Rad-Olympiasiegerin der Sommerspiele in Tokyo und Mathematikerin Anna Kiesenhofer betrachtet werden, die vor 30 Jahren in Kirchdorf an der Krems geboren wurde und in Niederkreuzstetten bei Mistelbach aufwuchs.

Eine Radtour an der ligurischen Küste Italiens bis zur Côte d’Azur im französischen Departement Var wäre für Amateure auch heute noch eine Herausforderung, obwohl die von Burckhard gewählte Strecke abseits der Autobahnstrecke A12 liegt und die ehemalige Hauptverbindung an der Küstenstraße zu einer "Provinzstraße" herabgestuft wurde.

Sand und Schlaglöcher

Aber auch professionelle Radfahrer hatten stets Respekt vor den engen Kurven und brenzligen Begegnungen; denn selbst wenn die Strecke für Rennen abgesperrt wird, ist sie oft von fanatischen Zuschauern gesäumt, wie es bei großen Alpenrennen à la Giro d’Italia, Tour de France oder der spanischen Vuelta üblich ist. Und der beschauliche Rad-Reisende muss mit Wohnwagengespannen, Motorradfahrern und LKW rechnen, was ein gefährliches Unterfangen darstellt.

Damals waren es weniger die Automobile, welche die Radler gefährdeten, als vielmehr unübersichtliche Kurven, ständig geschlossene Bahnschranken (man musste damals selbst läuten und um das Öffnen bitten!) und der Flugsand des ligurischen Meers auf der Straße - neben den Schlaglöchern, die es auch heute noch stellenweise gibt. Der Jurist und Autor hatte sich gut auf die ligurische Reise vorbereitet und den Führer der "Unione Velocipedistica Italiana" studiert. Dieser warnte vor unübersichtlichen Kurven und schlechter Pflasterung auf der uralten Römerstraße, der "Aurelia", welche die ligurische Küste begleitet und die schönsten Ausblicke an der Riviera delle palme und der Riviera dei fiori bei San Remo bietet.

Kurzfristig verließ Burckhard der Mut und er verlud in Genua seine "bicicletta" am Nebensitz eines offenen Wagens und ließ sich nach Pegli chauffieren. Bald erkannte er aber, dass die Warnungen der italienischen Radfahrvereinigung überzogen waren. Selbst den als furchtbar geschilderten Abschnitt von Genua bis Pegli hätte er guten Gewissens bereits am Sattel statt auf dem Rücksitz eines Mietwagens erledigen können. So nahm er sein Fahrrad nach halbstündiger Autofahrt aus dem Fond, belud es, sattelte auf und genoss die landschaftlich wunderschöne, wenn auch anstrengende Fahrt entlang der Riviera, wo er zwischendurch schwimmen ging und zwei vorgelagerte Inseln besuchte sowie den milden Wein der Region genoss. In Nizza traf er sodann bei Regen ein.

Wie Arthur Schnitzler, der mit dem "Bicycle" durch den Wienerwald fuhr, und Hugo von Hofmannsthal, der 1898 von Genf aus eine Tour durch die Romandie und Südfrankreich unternahm, war Burckhard ein passionierter Radfahrer. Und er machte sich frühzeitig Gedanken zum Ausbau der Routen, wie ein weiterer Artikel von ihm beweist. Unter dem Titel "Über die Philosophie des Fahrrads" ("Die Zeit" vom 30. Juni 1900) befasst sich Burckhard zunächst mit dem gleichnamigen Buch von Eduard Bertz, sodann unterbreitet er praxisnahe Vorschläge, wie zum Beispiel das Anlegen asphaltierter Überlandwege entlang von Bahnstrecken. Er weist nach, dass Sicherheitsbedenken oft nur vorgeschützt waren, und erkannte, dass man als Radfahrer oft auf undisziplinierte Passanten trifft, die damals ungeniert auf der Straße Zeitungen lasen und deren Urenkel heute in ihr Handy starren und dabei Radwege blockieren.

Theoretisch fundiert

Historisch von Interesse ist sein Hinweis, dass es schon bald nach dem Bau der Ringstraße einen viel breiteren Radweg gab als den heute bestehenden. So schreibt er in seinem Beitrag für "Die Zeit": "In Wien hat man seinerzeit den Radfahrern eine Umgestaltung der an der Ringstraße hinziehenden, äußerst wenig benützten Reitallee in Aussicht gestellt. Es war vorauszusehen, dass von Seiten gewisser Kreise diesem Projekt mit erfolgreichem Widerstand begegnet wird."

Und apropos Lobbying: Um 1890 entstanden neue Interessenvertretungen und Cyclisten-Clubs und es wurden beachtliche Touren dokumentiert. Der österreichische Hauptmann Prochazka legte auf einer Bosnienfahrt im Juli 1894 mehr als 1.200 Kilometer bei extremen Temperaturen per Rad zurück, wie die Zeitschrift "Sport & Salon" vom 7. Juli 1900 berichtet. Auch an der theoretischen Fundierung gebrach es nicht, frühzeitig wurde der gesundheitliche und umweltpolitische Wert der abgasfreien Fortbewegung erkannt. Die Bertz’sche Formel lautete: "Hinaus in die Natur", und das sei die eigentliche Philosophie des Fahrrads, so Burckhard.

Im Jahr 1889 hatte der Grazer Techniker Adolf Hochenegg mit einem dreißigseitigen Essay auf "Die ethische Seite des Radfahrens" aufmerksam gemacht. Die Studie berücksichtigt nationalökonomische, soziale und psychologische Aspekte, führt die Begriffe "Radrealist" und "Radidealist" ein und widmet sich Missständen, darunter "nicht reellen" Preise für Fahrräder, in origineller Weise. Damals waren Marken wie Victoria mit eigenen Niederlassungen in Wien vertreten, Burckhard konnte sein Rad vor der Haustüre in der Innenstadt in der Elisabethstraße kaufen.

Gerhard Strejcek, geboren 1963, ist Ao. Professor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und Autor.

Literatur: Gerhard Strejcek (Hrsg): Gelebtes Recht. 29 Juristenporträts. Österreichische Verlagsanstalt / Stämpfli, 2012, 358 Seiten, 27,- Euro.