Es scheint, als nagte ein aggressives Virus grundlegend an der Basis unserer Gesellschaften.
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Die Welt, wie wir sie kannten, brennt. Zuerst hat eine plötzlich hereinbrechende Pandemie unsere Normalität aus der Bahn geworfen und die gewohnte Sicherheit ziemlich herausgefordert. Nun ist es der durch die Gewalt von US-Polizisten verursachte erneute Tod von Afroamerikanern, der nicht nur die Sicherheit, sondern vor allem den Glauben daran weltweit zu Fall gebracht hat. Es scheint, als nagte ein aggressives Virus grundlegend an der Basis unserer Gesellschaften.
Doch während wir uns vor dem Coronavirus in die Heim-Quarantäne zurückziehen konnten, bleibt das Virus der sozialen Ungerechtigkeit allgegenwärtig: Unausweichlich sitzt es in den gesellschaftlichen Strukturen und bestimmt unterschwellig unser öffentliches und privates Leben. Darin findet es seinen Nährboden, dort pflanzt es sich fort und durchseucht in immer neuen Schüben unsere Realität. Die Wurzeln dieser Krankheit, sie liegen in der Vergangenheit. Denn noch lange nachdem die eigentlichen historischen Ursachen verschwunden sind - Sklaverei, Kolonialismus, Totalitarismus, Patriarchat -, senden diese ihre Giftpfeile in die Gegenwart. Sie sind so verwoben in unseren Denk- und Handlungsstrukturen, dass sie in unserer Gesellschaft den Status einer "Herdenimmunität" erreicht haben. So merken wir oftmals gar nicht, wogegen wir längst "immun" geworden sind.
Inmitten der Sicherheit dieser "Immunität" macht sich Gedankenlosigkeit breit. Es braucht erst erschreckende Bilder, wie jene des unter dem Knie eines Polizisten erstickenden George Floyd, die uns zum Hinschauen zwingen. Wir werden wachgerüttelt, dass das, was wir als gesellschaftliche Normalität empfinden, nichts anderes ist als ein behelfsmäßig zusammengebautes Rettungsboot, hin- und hergeworfen in einem Meer historisch begründeter Ungerechtigkeiten.
Viele unter uns, allen voran jene, die zu benachteiligten Gruppen oder Minderheiten gehören, sind an dauernde Angriffe auf ihre persönliche Würde so gewöhnt, dass sie die beständig anschlagenden Wellen längst als "normal" empfinden und kaum Notiz davon nehmen. Frauen, sind hierfür das beste Beispiel: "Me too" ist sprichwörtlich geworden für die Erkenntnis, dass "normal" nicht gleichzeitig "okay" ist. So banal eine solche Einsicht erscheint, so revolutionär ist sie. Schwappen die Wogen erst einmal in Wut über, spiegelt sich plötzlich darin das Unrecht von Generationen. Und dann ist es auf einmal genug - für Frauen weltweit war es mit Harvey Weinstein genug; für die arabische Welt mit der Selbstverbrennung Bouazizis; für Schwarze jetzt mit George Floyd.
Die eigene Geschichte kritisch hinterfragen
Solche Momente sind ein Aufruf zum Umdenken, zum Neugestalten, wobei die verbale Forderung - in diesem Fall "Black Lives Matter" - nicht genügt. Vielmehr müssen die Wurzeln angepackt und die Ursachen und Entwicklungen kritisch hinterfragt werden. Denn indem wir vor-denken, denken wir daher auch immer nach: an die Vergangenheit, an unsere eigene Geschichte.
Hinterfragen heißt kritisch Hinschauen auf die eigene Vergangenheit. Denken wir etwa, wie Deutschland gerade durch das bewusste Sich-der-Geschichte-stellen den Weg in eine Europäische Gemeinschaft gebahnt hat, die Wahrung von Menschenwürde und Demokratie zum obersten Ziel hat; und wie in Österreich der lange hochgehaltene Opfermythos von den Folgegenerationen dann doch noch aufgebrochen wurde. Dass die Jungen nicht mehr gewillt sind, die Nebel um die Geschichte ihres Landes hinzunehmen, zeigt sich auch jetzt wieder in Großbritannien: Von Bristol bis zu den Orkney-Inseln steht die neue Generationen gegen alte "Helden" auf. Sie stürzt Denkmäler aus Protest gegen die Glorifizierung des britischen Kolonialreichs, etwa die Statue Edward Colstons in Bristol, von wo aus er einst den Sklavenhandel über den Atlantik organisierte. In London entfernten die Behörden die Statue des Sklavenhalters Robert Milligan rasch selbständig, in Oxford brachten Demonstranten nach jahrelangen Protesten die Statue des Kolonialherren Cecil Rhodes endlich zu Fall, obwohl dieser einer der großzügigsten Spender der Universität war.
All dies sind Zeichen des Aufbruchs. Etwas Neues kommt immer nur aus der Infragestellung der Vergangenheit, niemals aus deren Leugnung, Zensur oder gar Verschönerung. Die Generation von heute fordert zu wissen, was war, man ist endlich bereit, sich den ungemütlichen Seiten der eigenen Geschichte zu stellen, historische Ungerechtigkeiten klar anzusprechen. Ja, man ist sogar aufgefordert, sich tragischer Ereignisse öffentlich zu schämen. Lasst uns die Ikonen, die wir stürzen müssen und wollen, nicht sofort mit neuen - und morgen schon wieder alten - "Helden" besetzen. Nutzen wir stattdessen die Gelegenheit, das Fundament unserer Gesellschaft neu zu errichten. Nur so kommen wir weiter.