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Historischer Kompromiss zwischen orthodoxen und weltlichen Juden?

Von Ulrich W. Sahm

Politik

Jerusalem - Israels Parlament, die Knesset, wird über einen historischen Kompromiss abstimmen, der die Spannungen zwischen frommen und weltlichen Juden abbauen soll. Das Kabinett von Premier Ehud Barak hat am Sonntag nach fünfstündigen Beratungen die Empfehlungen für einen "Gesellschaftsvertrag" mit zwei Gegenstimmen angenommen.


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Während bisher grundsätzlich jeder Israeli im Alter von 18 Jahren zum dreijährigen Militärdienst eingezogen wurde, Talmudschüler aber durch Ausnahmeregelungen zurückgestellt wurden, wird künftig durch eine gesetzliche Regelung ein Talmudschüler bis zu seinem 23. Lebensjahr automatisch von der Pflicht befreit, dem Staat zu dienen.

Dem Talmudschüler wird dann während eines Jahres freigestellt, in den Religionsschulen zu verbleiben, sich einem Sozialdienst anzuschließen oder aber Arbeit zu suchen. Diese Empfehlungen bedeuten vor allem für die ständig wachsenden Kreise frommer Juden eine mögliche Einbindung in die Gesellschaft. Jetzt wird auch offiziell das Talmudstudium als Grund für eine Befreiung vom Militärdienst anerkannt, ohne zu einer Entfremdung von der Gesellschaft zu führen.

Bisher haben sich Jugendliche dem Talmudstudium teilweise zugewandt, um sich vor dem Militärdienst zu drücken. Da ihnen aber mangels gesetzlicher Regelungen die Rekrutierung drohte, sobald sie das Studium der heiligen Schriften abbrachen und einem Beruf nachgingen, waren sie geradezu gezwungen, ihr Leben lang als Sozialhilfeempfänger den Talmud zu studieren und von der Gesellschaft ausgeschlossen zu bleiben. Zwei Minister hatten im Kabinett gegen den Gesellschaftsvertrag gestimmt, weil er eine "pauschale Freistellung" für nur eine Gesellschaftsgruppe vorsehe. "Wieso sollte ein Talmudschüler andere Privilegien genießen als ein Computer-Student", fragte die Umweltministerin Dalia Itzik.

Die Regierung war zu dem als "historisch" bezeichneten Kompromiss vom Obersten Gerichtshof gezwungen worden. Die Höchstrichter gaben der Regierung und der Knesset eine einjährige Frist, die politisch motivierte Freistellung orthodoxer Juden vom regulären Militärdienst zu verbieten, weil sie vom Gesetz nicht geregelt sei, sondern das Ergebnis politischer Absprachen und von Koalitionsabkommen war.

Eine Zwangsrekrutierung streng gläubiger Juden aber hätte in Israel zu einem Aufstand geführt. Zudem stellte sich nach Experimenten der Armee heraus, dass die meisten Ultraorthodoxen für einen Militärdienst "nicht geeignet" seien. Die Armee hatte in den vergangenen Jahren Sondereinheiten für fromme Juden eingerichtet, um zu prüfen, wie sie sich in die militärische Disziplin und Hierarchie integrieren. Kommentatoren meinten am Montag, dass dieses Gesetz für en Zusammenhalt seiner Gesellschaft eine ebenso große Bedeutung habe wie der Friedensprozess für den ganzen Nahen Osten.