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Hochrechnungen sind keine Argumente

Von Alexander von der Decken

Gastkommentare
Alexander von der Decken ist außenpolitischer Redakteur in Bremen.

Der deutsche Wahlkampf erinnert immer mehr an die US-Wahlschlammschlacht. Die EU droht zu zerbrechen. | Um dem postdemokratischen Treiben beizukommen, müsste sich die Politik vom Parteiengeklüngel loslösen.


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Der Wahlkampf in Deutschland hat zuletzt Trump-Niveau erreicht: Inhaltliche Auseinandersetzung - weit gefehlt. Hochrechnungen dominierten die Berichterstattung in Deutschland; Zahlenjongliererei auf Glücksspielniveau statt Konfrontation. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz nippt an allen Thementöpfen, um eine Umverteilungsideologie zu präsentieren. Ein uralter SPD-Hut, den er da in den Ring geworfen hat. Ansonsten meidet er jeden politischen Wellengang. Kanzlerin Angela Merkel hingegen zeigt vermeintliche Härte in der Flüchtlingspolitik. Rigoroses Abschieben, in der Hoffnung, dass sich brisante Fragen bis nach der Wahl verschieben lassen. Mit ihrem skandalösen Flüchtlingsdeal mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan hat sie sich selbst einen Maulkorb verpasst. Eine Flüchtlingsdebatte zum jetzigen Zeitpunkt würde ihre Wiederwahl gefährden. Dabei ist genau das das Thema. Die Flüchtlingssituation ist die Folge einer enthemmten Globalisierung - eben auch made in Europe. Merkels Flüchtlingspolitik hat ihre Berechtigung, allein die Art und Weise, wie sie sie angegangen ist, war ein Fehler. Statt einen öffentlichen Diskurs anzuschieben, wird auf Hochrechnungen geschielt. Doch seit der US-Wahlschlammschlacht sollte jedem klar sein, welchen Wert Hochrechnungen haben.

Wie schlecht muss es um die politische Ethik in einem Land bestellt sein, dass tumbe rechte Argumente verfangen können? In einem Europa, das immer rechtslastiger wird, darf es keine "Weiter so"-Kultur geben. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker versucht, Europa mit einem Reformschub neues Leben einzuhauchen. Seine Ideen sind interessant, doch zuallererst verbirgt sich hinter ihnen Verzweiflung. Die EU droht zu zerbrechen. Sollte in Frankreich der Front National im Mai siegen und Marine Le Pen Ernst machen mit ihren Austrittsankündigungen, dann wäre das der Todesstoß nach dem Zerbrechen der historischen Achse Deutschland-Frankreich. Die Idee eines geeinten Europa hat schlichtweg ihre Legitimation verloren.

Die rechten Populisten europäischer Prägung wünschen sich insgeheim einen Trumpismus herbei. Mit ideologischem Besen soll kulturelle Andersartigkeit aus dem Land gefegt werden. Der Blick über den Atlantik bietet ein Schüttelfrostpanorama, das einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Solch einem postdemokratischen Treiben lässt sich nur mit starken Argumenten beikommen, losgelöst von jedem Parteiengeklüngel. Es geht um nicht weniger als um das Überleben der Demokratie.

Sich an Hochrechnungen entlangzuhangeln, um einen Sieg herauszuholen, bedeutet, die Freiheit leichtfertig zur Disposition zu stellen. Die Hochrechnungen nach dem Schließen der Wahllokale beleuchten den Wahlverlauf bis hin zum Wahlergebnis, das dann verbindlich ist. Bis dahin zählt nur eines: der faire und ehrliche Disput auf der politischen Bühne.