Wie der Supreme Court in den USA hat der Verfassungsgerichtshof in den vergangenen Jahren gesellschaftspolitische Weichen gestellt. Was trennt und eint diese Gerichte? Eine Spurensuche.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Die Mission des Höchstrichters geht weiter. Er wolle "den Kampf um den Schutz der Religionsfreiheit in einer zunehmend säkularen Gesellschaft gewinnen", verkündete Samuel Alito bei einer Rede Ende Juli. Der Richter des US-amerikanischen Supreme Court hat die Entscheidung verfasst, durch die das landesweite Recht auf Abtreibung gekippt wurde. Während die Republikaner jubelten, nannte US-Präsident Joe Biden den Supreme Court ein "extremistisches Gericht".
Solche Kämpfe um den Verfassungsgerichtshof (VfGH) gab es in Österreich zuletzt nicht. Auch hierzulande stellte das Höchstgericht in den vergangenen Jahren aber gesellschaftspolitische Weichen. Anderes als in den USA gingen sie nicht in eine konservative, sondern liberale Richtung. Etwa bei der gleichgeschlechtlichen Ehe oder beim Kippen des Verbots der Beihilfe zum Selbstmord. Wie kommt es dazu?
Strukturell und vom Rechtsverständnis her unterscheiden sich Supreme Court und VfGH stark. Im anglo-amerikanischen Common Law schafft der Supreme Court anhand von Einzelfallentscheidungen Präjudizien. Der Richter sei im Common Law "als Rechtssetzer unbestritten", sagt Verfassungsrechtler Christoph Bezemek von der Universität Graz. Er schafft durch seine Entscheidungen neues Recht und ergänzt damit das Gesetzesrecht, also das vom Gesetzgeber erlassene Recht. In Österreich gibt bei der Rechtsanwendung hingegen das Gesetzesrecht den Ton an.
Paralyse begünstigt Bedeutung des Gerichts
Auch das politische System der USA begünstige den hohen Stellenwert des Supreme Court, erklärt Politologe Reinhard Heinisch von der Uni Salzburg. In Österreich kann eine Regierung, die eine Mehrheit im Nationalrat hat, einfache Gesetze beschließen. In den USA muss die Partei des Präsidenten über die Mehrheit im Repräsentantenhaus und eine Supermehrheit im Senat verfügen. Da dies oft nicht der Fall ist, komme es zu einer Pattsituation und Paralyse der Politik, sagt Heinisch.
"In dieser Situation werden die Gerichte politisch mächtiger, weil der Gesetzgeber auf unliebsame Gerichtsentscheidungen nicht mit neuen Gesetzen antworten kann. So könnte auf Bundesebene ein Gesetz zur Legalisierung der Abtreibung beschlossen werden. Bisher gab es nur jeweils eine abtreibungsfreundliche und nun eine abtreibungsfeindliche Auslegung eines bestehenden Verfassungsartikels. Gegen ein eigenes Gesetz könnte das Gericht wenig unternehmen. Aber die Mehrheit dafür gibt es nicht", so Heinisch.
Damit geht in den USA eine andere Wahrnehmung der Bedeutung der Richter einher. Das zeigt sich bei den Spektakeln um die Richterbestellungen, schlägt sich aber auch in den Entscheidungen nieder. "Am Supreme Court schreibt ein Richter für die Gerichtsmehrheit die Entscheidung, ein anderer schreibt die minority opinion. Damit sind die Argumentationen viel stärker subjektiv gefärbt als die Entscheidungen des VfGH", sagt Bezemek.
Der Verfassungsgerichtshof spreche mit einer Stimme, erklärt Verfassungsrechtler Andreas Wimmer von der Uni Linz: "Wie die Abstimmung im Gerichtshof verlaufen ist, bleibt geheim. Es ist mir noch nie gelungen, einem Mitglied des Gerichts auch nur ein Sterbenswörtchen über die Diskussion oder die Abstimmung im Gerichtshof zu entlocken. Das ist ein großer Wert, insbesondere in politisch angespannten Zeiten." Zwar gab es in Österreich öfters den Plan,Sondervoten einzuführen, umgesetzt wurde er aber nie.
Trotz der Unterschiede haben sich VfGH und Supreme Court angenähert. "Der VfGH positioniert sich in seinem Rollenverständnis immer stärker in der Richtung, in der wir den Supreme Court schon finden. Er kultiviert sein Verständnis als politischer Player", sagt Bezemek.
Einfluss der europäischen Gerichte
Der VfGH habe seit jeher eine politische Funktion, sagt Wimmer: "Die Verfassungsrichter können Gesetze aufheben und von der Politik getroffene Entscheidungen rückgängig machen." Von dieser "negativen Gesetzgebungskompetenz" machten die Richter viele Jahrzehnte lang nur überschaubar Gebrauch. Der VfGH habe sich in Zurückhaltung geübt, "sich am positiven Recht orientiert und seiner Auslegung die historischen Absichten des Verfassungsgesetzgebers zugrunde gelegt", sagt Wimmer. Bezemek erklärt: Zu Beginn der 1980er-Jahre habe das Höchstgericht aber allmählich angefangen, anhand der Grundrechte und insbesondere des Gleichheitssatzes offensiver zu prüfen. Hinzu kam der steigende liberale Einfluss des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) auf den VfGH.
Die Fallrechtstradition, bei der von Richtern neues Recht gesetzt wird, sei dem kontinentaleuropäischen Recht an sich fremd, sagt Heinisch. Beim EuGH habe sich aber - vor allem auch aufgrund des damals großen Einflusses der Briten - diese Tradition durchsetzen können. "Und der VfGH orientiert sich nun einmal am EuGH: Damit kommt diese fallbezogene Gerichtsbarkeit auch stärker nach Österreich." Hier gebe es eine Annäherung zwischen dem VfGH und dem Supreme Court.
An seinen gestaltenden politischen Aufgaben finde der VfGH zunehmend Gefallen, sagt Bezemek. Das lasse sich aus dem Sterbehilfe-Erkenntnis ableiten oder bei der "gleichgeschlechtlichen Ehe, wo der VfGH aktiv geworden ist mit einer eher kreativen Rechtsprechung". Für Wimmer hat sich der VfGH bei der Ehe für alle de facto zum positiven Gesetzgeber aufgeschwungen: "Er hat zwar nur zwei Worte im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch aufgehoben, aber inhaltlich hat er den Ehebegriff dadurch völlig neu definiert."
Linksliberale Linie des Höchstgerichts
Die Entscheidungen sind vor allem auch interessant, da so wie im Supreme Court in den USA am VfGH seit Jahren eine Mehrheit rechts der Mitte vorhanden sein müsste. Nämlich dann, wenn man nach den Mehrheiten beziehungsweise Parteien geht, welche die Richter bestellt haben. Von den derzeit 14 Richtern galten sechs bei ihrer Nominierung als ÖVP-Wunschkandidaten, zwei als FPÖ-Wunschkandidaten.
Dennoch fiel das Höchstgericht zuletzt eben nicht mit einer konservativen Rechtsprechung auf, im Gegenteil: Politologe Heinisch spricht von einer "linksliberalen-progressiven Linie". Der Verfassungsgerichtshof sei nun wohl dort, wo das US-amerikanische Höchstgericht in den 1970er-Jahren gewesen sei: "Damals war der Supreme Court extrem liberal."
Es handle sich nun einmal um unabhängige Richter, so Bezemek. Man könne versuchen, sich von diesen im Vorhinein ein Bild zu machen. Durch die Dynamik, die es in einem Gericht gebe, komme es aber vor, dass die Richter nach der Bestellung nicht den von ihnen erwarteten ideologischen Linien treu bleiben. Bezemek verweist auf David Souter. Vom unter George H. W. Bush nominierten Supreme-Court-Richter war erwartet worden, dass er einer der konservativen Richter des Gerichts wird. "Bei seinem Rückzug ist Souter aber als eines der liberalsten Mitglieder rausgegangen", so Bezemek. Das Phänomen ist als "Souter-Effekt" bekannt.
"Die Richter leben natürlich in der Zeit und lesen auch Umfragen", sagt Heinisch. So wäre die Entscheidung zur Sterbehilfe vor 30 Jahren wahrscheinlich anders ausgefallen. Laut Wimmer könne man sich "ein wenig des Eindrucks nicht erwehren, dass der VfGH bei gesellschaftspolitisch sensiblen Fällen auch darauf achtet, wie seine Entscheidung medial aufgenommen wird".
Der Gesetzgeber sei auch vielfach froh, wenn der VfGH ihm "unbequeme politische Entscheidungen abnimmt", sagt Bezemek. Etwa, wenn er sich bei heiklen gesellschaftspolitischen Fragen zu keiner Position durchringen kann. Öfters sei es schon vorgekommen, dass das Höchstgericht hinter dem Gesetzgeber habe nachräumen müssen - beispielsweise beim Aufheben des Verbots der gleichgeschlechtlichen Unzucht mit Minderjährigen bis hin zur Sterbehilfe, meint Bezemek.
Zu weiter Spielraumerzeugt Gegenströmung
Bei einer zu weiten Auslegung ihrer Spielräume drohen Höchstgerichten aber auch Gefahren. Je mehr der VfGH die politische Bühne betrete, desto mehr drohe er auch zum politischen Akteur zu werden, sagt Bezemek.
"Wenn Gerichte einen übertriebenen justiziellen Aktivismus verfolgen, werden sie nicht mehr als neutrale, erhabene Schiedsrichter, sondern als politische Akteure gesehen", meint Wimmer. Dadurch bestehe die Gefahr, mittel- bis langfristig das Gegenteil vom eigentlichen Ziel zu erreichen. Denn übertriebener justizieller Aktivismus erzeuge übertriebene Gegenströmungen, wie man in den USA sehe. "Der Supreme Court hat lange eine progressive Judikatur verfolgt. Das Ergebnis war, dass ein politischer Druck entstanden ist, ihn umzubesetzen. Das ist auch gelungen", sagt Wimmer.