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Der britische Historiker Timothy Garton Ash über Brexit, Rechtspopulismus und Hoffnung für Europa.
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"Wiener Zeitung": Überall in Europa sind Rechtspopulisten auf dem Vormarsch - nicht zuletzt in Österreich -, in Großbritannien droht der Brexit. Erleben wir gerade das Zerbrechen des europäischen Nachkriegskonsenses?
Timothy Garton Ash: Lassen Sie mich zuerst auf dem Brexit: Man glaubt oft zu Unrecht, Großbritannien sei ein Sonderfall. Es gibt natürlich spezifisch britische Elemente bei diesen Tendenzen, die Sie in Ihrer Frage skizziert haben. Aber im Großen und Ganzen ist die Brexit-Diskussion nur ein Beispiel des größeren gesamteuropäischen Phänomens einer sich stetig vertiefenden Euroskepsis. Wobei auch in der Brexit-Debatte Migration das dominierende Thema schlechthin ist. Und dann gibt es da dieses dumpfe Gefühl in der Wählerschaft, dass Eliten alles Mögliche nicht mehr im Griff haben. Die Menschen in Großbritannien - und wohl nicht nur dort - sagen: "Die Europäische Union ist doch nur mehr für die Eliten gut, die EU ist doch zum Selbstbereicherungsverband verkommen und bringt dem Normalbürger nichts." Die Menschen fragen sich: Was ist nun mit Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätzen? Mit Sicherheit nach innen und außen? Das ist für die Union eine Existenzfrage.
Unser Interview findet am Tag vor der österreichischen Präsidentschaftswahl statt, und der Ausgang ist jetzt, wo wir im Hotel 25hours sitzen, ungewiss.
Das ist doch schön. Demokratie hat eben den Vorteil, dass sie spannend ist. Den zukünftigen chinesischen Präsenten kennt man immer bereits im Vorhinein. Da kann uns trösten, dass in einer Demokratie solche Fragen offen bleiben, bis der Souverän gesprochen hat, wenn wir einmal mit einem Wahlergebnis nicht glücklich sind. Aber zurück zu den Szenarien: Wenn am Sonntag Norbert Hofer von den Freiheitlichen gewählt sein wird, dann wird das in Europa mit großer Sorge registriert werden. Das wird man zum Teil wohl als spezifisch österreichisches Phänomen interpretieren. Doch damit macht man es sich zu leicht, da ein solcher Ausgang auch anderswo in Europa durchaus denkbar ist. Ein Wahlsieg Hofers ist wohl als übles Zeichen von weiter ansteigendem Rechtspopulismus in Europa zu werten. Aber eine Republik Österreich mit einem Bundespräsidenten Hofer wäre eben ein Sorgenkind mehr: In Ländern wie der Türkei, Ungarn oder Polen haben bereits Entwicklungen stattgefunden, die man eigentlich immer für undenkbar gehalten hat.
Und wie würden Sie kommentieren, wenn Alexander Van der Bellen am Sonntag zum Bundespräsidenten gewählt sein würde?
Dann würde ich vor Überinterpretation warnen. Wenn Alexander Van der Bellen gewonnen hat, dann wird das in Europa mit einem Seufzer der Erleichterung wahrgenommen. Aber ich glaube nicht, dass man aus der Tatsache, dass ein Grüner ist, eine große Rolle spielt. Aber ist faszinierend, wie sich die Grünen als fester Teil des politischen Systems in Mitteleuropa verankern konnten. Was ich in jedem Fall konstatieren würde: Es zeigt sich eben auch in Österreich die Krise der großen etablierten klassischen Volksparteien, die gerade im österreichischen System aus der Sicht vieler Österreicherinnen und Österreicher einen Klüngel gebildet haben. Interessanterweise stehen die Volksparteien in Ländern wie Spanien weniger unter Druck - und das trotz der hohen Arbeitslosigkeit. In Deutschland hat die AfD die Bühne betreten, in Italien hat sich die Parteienlandschaft stabilisiert. In Frankreich steht allerdings Marine Le Pen von der Front National ante portas.
Zurück zum Thema Brexit: Halten Sie es für denkbar, dass Großbritannien die EU verlässt?
Auch für mich als englischer Europäer ist es nur schwer verständlich, dass meine Landsleute so verrückt sein und für den Brexit stimmen könnten. Denn die Risiken eines Brexit sind ja eindeutig größer, als wenn man drin bleibt. Aber wie auch schon bei unserer Diskussion über den Vormarsch der Rechtspopulisten auf dem Kontinent: Es geht den Brexit-Befürwortern um die Kontrolle der eigenen Grenzen, das Thema Zuwanderung spielt auch in der Brexit-Debatte eine dominierende Rolle.
Großbritannien ist eine Insel und hat es viel einfacher mit der Kontrolle der Grenzen als Kontinentaleuropa.
Entscheidend ist für die Brexit-Befürworter die Tatsache, dass Tony Blair bei der Osterweiterung der Europäischen Union die Tore für Osteuropäer geöffnet hat. 2,2 Millionen sind aus Osteuropa, aber zuletzt auch aus Spanien, Portugal, Italien, Griechenland zu uns nach Großbritannien gekommen. Das beschäftigt Menschen, die man nicht als Rassisten abqualifizieren sollte, denn es ist eine Tatsache, dass der Wohlfahrtsstaat belastet wird, und das macht vielen Menschen Sorgen.
In vielen Politikfeldern erleben wir eine Unfähigkeit zur Debatte, sogar eine gewisse Sprachlosigkeit. Vertreter von verschiedenen politischen Polen können miteinander schlicht nicht mehr reden. Die Öffentlichkeit ist zersplittert, zwischen manchen gesellschaftlichen Schichten gibt kaum mehr Berührungspunkte.
Ich habe dem in meinem neuen Buch zur Redefreiheit "Free Speech" ein Kapitel gewidmet und ich komme zum Schluss, dass es sich letztendlich auch um ein Versäumnis und ein Versagen der Medien handelt. Denn auf Facebook oder Twitter diskutieren nur mehr die Menschen miteinander, die ohnehin derselben Meinung sind. Eine Lehre daraus ist die Bedeutung öffentlich-rechtlicher Medien - es liegt an ihnen, mit allen Teilen der Gesellschaft zu kommunizieren.
Die Polarisierung in den westlichen Gesellschaften - und vor allem in der EU - zwischen den politischen Lagern nimmt aber zu.
Ich würde das gerne illustrieren. Denken wir an die Bewegungsfreiheit innerhalb der Europäischen Union. Fragt man EU-befürworter, was sie am meisten an der EU schätzen, so hört man die Antwort: Dass man sich als EU-Bürger überall in Europa niederlassen und man überall in der EU arbeiten kann. Diese Grundfreiheit der Europäischen Union ist aber gleichzeitig genau das, was den Europa-Gegnern Angst macht. Sie wollen diese Bewegungsfreiheit einschränken, sie sehen diese Grundfreiheit als Risiko, als Gefahr.
Wie geht es mit Europa angesichts der Entwicklungen weiter?
Es gibt diese berühmte Formel, die vom Pessimismus des Intellekts und dem Optimismus des Willens handelt. Bei mir muss derzeit der Optimismus des Willens Überstunden leisten, weil der Pessimismus des Intellekts tatsächlich vorhanden und sehr real ist. Was für mich entscheidend ist, dass wir alle Probleme offen diskutieren, dass wir unsere Konflikte auf robuste, aber zivilisierte Weise austragen und nicht verdrängen. Wir brauchen eine bessere Wirtschaftspolitik, das versteht sich ja von selbst. Was wir aber auch brauchen, ist eine stärkere Mobilisierung der jüngeren Generation, die sich wieder für Europa begeistern muss. Man muss ihnen sagen: "Ihr seid die großen Gewinner dieser europäischen Integration. Ihr glaubt vielleicht nicht daran, dass ein geeintes Europa kaputtgehen kann. Aber ich sage euch: Es kann ganz schnell kaputtgehen, wir können ganz schnell zu einem Europa der Diktaturen und des Krieges zurückfallen." Die Jugend muss sich verdammt nochmal jetzt mobilisieren.
Timothy Garton Ash ist britischer Historiker und Schriftsteller. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Gegenwartsgeschichte Europas seit 1945. Sein jüngstes Buch "Free Speech" behandelt das Thema Redefreiheit. Er war auf Einladung des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen in Wien.