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Also doch unzurechnungsfähig. Im Prozess gegen Anders Behring Breivik hat sich die norwegische Staatsanwaltschaft dafür entschieden, die Einweisung des 33-jährigen Rechtsextremisten in eine psychiatrische Einrichtung zu beantragen.
Natürlich hat die Frage "zurechnungsfähig oder nicht?" viel mit den Besonderheiten des norwegischen Strafrechts zu tun, das keine lebenslange Haft kennt. Im Kern geht es jedoch um die Deutungshoheit über die Tat Breiviks.
Ein geistig gestörter Massenmörder von 77 Menschen ist schließlich leichter zu ertragen als einer, der jahrelang gezielt und unentdeckt einen Terrorakt vorbereitete und ausführte; und der mit diesem eine politische Botschaft verbindet, die einer Kriegserklärung an die bestehende Gesellschaftsordnung gleichkommt. Die Taten eines Wahnsinnigen entziehen sich rationalen Erklärungsversuchen; ein krankes Hirn steht ohne vernünftigen Bezug zur Gesellschaft, die ringsherum ihren Alltag lebt.
Für den Fall der Zurechnungsfähigkeit Breiviks drängt sich dagegen die Suche nach all jenen Ursachen auf, die möglicherweise zu dieser Tat führten, sie zumindest begünstigten. Eine ganze Nation und ihr Selbstverständnis als tolerante, aufgeklärte Gemeinschaft sähe sich dabei mit bohrenden Fragen konfrontiert. Schließlich macht unser heutiges Verständnis von Schuld nicht nur den Täter für seine Tat alleinverantwortlich, sondern eben auch seine Familie, Nachbarn, Freunde, Arbeitskollegen - und am Ende eben das ganze, große Wir. Das alles fällt nun weg.
Indem die Anklage Breivik zum kranken Psychopathen erklärt, entzieht sie auch der behaupteten politischen Botschaft des Attentats die Grundlage. Schließlich stilisiert sich Breivik selbst als Mann mit Mission, der nicht nur durch sein Internetpamphlet, sondern eben auch durch seinen Massenmord eine politische Botschaft verkünden wollte. Hinter den Gittern der geschlossenen Psychiatrie reduziert sich das Gerede einer Weltverschwörung auf Kosten Europas auf den Wahn eines geisteskranken Einzelnen.
So gesehen verwundert es nicht, dass der Attentäter selbst am vehementesten gegen die drohende Verurteilung als unzurechnungsfähig ankämpft. Wer sich zum Terroristen berufen fühlt, will nicht als Wahnsinniger enden.