Die EU will die Börsen attraktiver machen und den Zugang erleichtern.
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Ziel der von der EU angestrebten Kapitalmarktunion ist es unter anderem, dass sich Unternehmen jederzeit ausreichend finanzieren können. Das benötigte Kapital kann etwa über die Börse beschafft werden. Ein Vergleich der EU-Kommission zeigt: Zwischen 2010 und 2018 ging die Zahl der Börsennotierungen in der EU um 12 Prozent (von 7.392 auf 6.538) zurück, während das BIP im selben Zeitraum um 24 Prozent gestiegen ist. Besonders düster ist das Bild in Österreich: die letzten IPOs (Initial Public Offerings als erstmaliges öffentliches Angebot von Aktien) gab es im Jahr 2019 (Addiko, Frequentis und Marinomed). In Deutschland erfolgten im Vorjahr lediglich fünf IPOs und heuer erst einen.
Der rückläufige Trend ist auch deshalb bedenklich, weil laut Studien börsennotierte Unternehmen tendenziell schneller wachsen, im Durchschnitt höhere Einnahmen erzielen, mehr Mitarbeiter einstellen und sich zum Beispiel auch in der Corona-Krise besser finanzieren konnten. Unter dem Namen "Listing Act" hat die EU-Kommission daher ein dreiteiliges Maßnahmenpaket vorgelegt. Dessen Ziel ist es, die europäischen Kapitalmärkte attraktiver zu machen und für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) den Zugang zum Kapitalmarkt zu erleichtern.
Mehrstimmrechtsaktien gegen Einflussverlust
Im ersten Teil des "Listing Act" will die EU-Kommission an KMU-Wachstumsmärkten die Ausgabe von Aktien mit Mehrfachstimmrechten ermöglichen. Denn viele Unternehmer scheuen es, über den Verkauf von Aktien Einfluss zu verlieren. In den USA werden Mehrstimmrechtsaktien gerne genutzt, um etwa den genialen Tech-Gründer weiterhin im Fahrersitz zu belassen. In Österreich und Deutschland sind Mehrstimmrechtsaktien derzeit gesetzlich verboten, es gilt der Grundsatz: "One share one vote." Bezüglich Österreich läuft der "Listing Act" ins Leere, da sich die Einführung von Mehrstimmrechtsaktien auf KMU-Wachstumsmärkte bezieht und es in Österreich keinen solchen gibt. In Deutschland gibt es mit Scale der Frankfurter Börse einen KMU-Wachstumsmarkt. Darüber hinaus wird die Einführung von Mehrstimmrechtsaktien in Deutschland breit und durchaus kontrovers diskutiert.
Der zweite Teil zielt auf Änderungen der Finanzmarktrichtlinie (MiFID II). Als eines der Probleme für Going und Staying Public von KMUs hat die EU-Kommission das Fehlen von ausreichender Research Coverage identifiziert. Das gilt gerade für Firmen in Geschäftsbereichen, deren Analyse besonderes Know-how erfordert. So soll sich etwa Biontech, der Hersteller des ersten Covid-Impfstoffes, auch vor diesem Hintergrund für eine Notierung in den USA entschieden haben. Hierfür soll etwa eine neue Research-Kategorie ("issuer-sponsored research") mit daran anknüpfenden Pflichten geschaffen werden.
Im dritten Teil werden Änderungen der Prospektverordnung adressiert. Für das öffentliche Angebot (und die Zulassung zum geregelten Markt) von Wertpapieren bedarf es bekanntlich eines von der Aufsichtsbehörde gebilligten Prospekts. Da die Kapitalaufnahme über die europäischen Kapitalmärkte vor allem im Vergleich zu den USA als mangelhaft angesehen wird, soll es Vereinfachungen im EU-Prospektregime geben.
Für Sekundäremissionen soll es Unternehmen, deren Aktien an einem geregelten Markt zugelassen oder zum Handel in einem KMU-Wachstumsmarkt einbezogen sind, ermöglicht werden, jedes Jahr eine oder auch mehrere Kapitalerhöhungen um bis zu 40 Prozent des bereits zugelassenen Aktienkapitals prospektfrei durchzuführen. Bei Ausschöpfung dieser 40 Prozent sollen bereits 18 Monate nach Notierungsaufnahme Kapitalerhöhungen in beliebiger Höhe nur mittels Veröffentlichung eines zusammenfassenden zehnseitigen Dokuments durchführen können. Auch in Bezug auf die Prospekte sind Erleichterungen geplant.
Turnaround ist zweifelhaft
Viele dieser Vorschläge werden aber wohl ins Leere laufen. Der Großteil der Investoren bei größeren Aktienemissionen sind institutionelle Anleger, die sich entsprechend viel Informationsumfang und -tiefe erwarten. Aus Sicht der Praxis sinnvoll ist der Vorschlag der EU-Kommission, die Frist für öffentliche Angebote von mindestens sechs auf drei Arbeitstage zu verkürzen. Dies kann in volatileren Märkten eine zügigere Durchführung von IPOs ermöglichen. Bei den Börsenzulassungsfolgeplichten der Marktmissbrauchsverordnung soll es insbesondere beim Insiderrecht Erleichterungen geben.
Es erscheint zweifelhaft, ob die vorgeschlagenen Maßnahmen für einen Turnaround sorgen können. Denn das eigentliche Problem in Österreich und Deutschland ist die mangelhafte Nachfrage nach Aktien. Für Verbesserungen lohnt sich ein Blick nach Schweden. Dort werden die Menschen seit der Rentenreform ihr ganzes Leben von Aktien begleitet. Für Arbeitnehmer in Schweden ist es nämlich verpflichtend, 2,5 Prozent des Bruttoeinkommens für eine private Altersvorsorge am Kapitalmarkt aufzuwenden oder die staatliche Alternative des AP7-Fonds zu nutzen.
In Deutschland hat die Regierung im Jänner ihre Vorstellungen über die Einführung einer "Aktienrente" präsentiert, in deren Rahmen ein staatlicher Fonds für Investitionen am Kapitalmarkt aufgebaut werden soll, um langfristig das Rentensystem zu stabilisieren. Zudem könnte steuerliche Incentives zu einer gesteigerten Aktiennachfrage führen. Der "Listing Act" muss jedenfalls noch sowohl durch das EU-Parlament als auch durch den Rat der EU gebilligt werden. Dies wird noch einige Zeit dauern.
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