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René Girard, der bekannte Kulturanthropologe, setzt sich mit dem Phänomen der Gewalt in der Geschichte der Menschheit auseinander. An deren Wurzel sieht er ein grenzenloses Begehren, das über den Weg der Nachahmung rasch in die Sackgasse von Neid, Rivalität und gewaltsamen Konflikten führt. Auch biblisch betrachtet folgen der guten Schöpfung durch Gott in der Genesis elf Kapitel einer eskalierenden Gewaltgeschichte. So ist auch der erste, paradigmatische Tod in der Bibel der Mord des Kain an seinem Bruder Abel.
Allgegenwärtige Gewalt
In Variationen flackert nackte Gewalt weltweit immer wieder auf. Keine Nachrichtensendung, in der nicht über Terror und Gewalt berichtet wird. Unschuldige werden von Amokläufern wahllos umgebracht, in Norwegen, in Toulouse, in Erfurt. Überforderte US-Soldaten töten in Afghanistan schlafende Frauen und Kinder. Israel und Palästina finden keinen Frieden und bedrohen damit den Weltfrieden. Der Iran droht dem jüdischen Staat mit atomarer Vernichtung. Der arabische Frühling, aus Gewalt geboren, vermag diese oft selbst nicht zu vermeiden. Dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag geht die Arbeit nicht aus. Kandidaten kommen aus Kroatien, Syrien, Kambodscha, Zimbabwe oder Nigeria. Weltweit wird trotz Hunger und Armut für den Krieg gerüstet.
Der Gewalt im Großen entspricht die Gewalt im Kleinen. Pädagogische und sexuelle Gewalt in den Kirchen - zumal der katholischen - hat das Vertrauen vieler in eine jener wenigen gesellschaftlichen Organisationen schwer beschädigt, der man bisher die eigenen Kinder unbesorgt anvertrauen zu können meinte.
Dass es solche Gewalt gegen Anvertraute auch in staatlichen Heimen, in Sportvereinen und vor allem im familialen Umfeld gibt, mindert nicht die schwere Verantwortung der kirchlichen Mitarbeiter und ihrer Vorgesetzten. Gewalttätig zu sein, galt lange Zeit als ein männliches Merkmal. Heute holen nach neueren Studien jüngere Frauen in dieser Hinsicht auf.
Gewaltbereitschaft steckt offenkundig tief im Menschen. Repräsentative Studien lassen beunruhigende Zusammenhänge erkennen. Zur Gewalt neigt, wer sich seiner selbst nicht sicher ist. Es sind die "Autoritären", die zur Unterwerfung neigen, stellte der Philosoph Theodor W. Adorno schon vor Jahrzehnten fest. Sie buckeln nach oben und treten nach unten. Für sie hat Recht, wer oben ist. An liebesbedürftigen anvertrauten Wehrlosen vergreifen sie sich. Sie lieben sich selbst nicht, hassen dafür Fremde oder das andere Geschlecht.
Religiös Autoritäre
Ihre innere Schwäche kompensieren sie mit äußerer Gewalt. In einschlägigen Gaststätten, in autoritär gestimmten Parteien und religiösen Gruppen, in privaten Beziehungen und politischen Disputen. Die Welt ist ihnen zu "unübersichtlich" geworden (Jürgen Habermas). Die Vereinfacher am rechten und linken Flügel der Politik wie bei den Fundamentalisten auf allen Ebenen der Kirchen sind ihnen willkommen.
Das Autoritäre kommt nicht selten religiös daher. Das Lieblingswort der Autoritären in Kirchen heißt Gehorsam, nicht Verantwortung. Am Gewissen und am Evangelium orientierter "(Un)Gehorsam" ist für sie Verrat. Sie grenzen aus. Werden kämpferisch. Muslime haben dann für kämpferische "Kulturchristen" in einem vom Christentum geprägten Europa ebenso wenig verloren wie in der unmittelbaren Nachbarschaft.
Nach meinen Studien ist das die Haltung von vier unter zehn Österreichern. Dass vor der Karlskirche zwei Minarette stehen, wir arabische Ziffern haben und das Gardebataillon des Bundesheeres seit der k. k. Monarchie hauptsächlich aus Bosniaken bestand, blenden sie aus. Ganz zu schweigen von den tiefehrfürchtigen Beziehungen, welche christliche MystikerInnen (wie Teresa von Avila oder Johannes von Kreuz) zu islamischen Sufis pflegten.
Es gehört zu den dunklen Seiten jeder Religion, dass sie Gewalt legitimieren und auslösen kann. Der Zusammenprall der Kulturen kann leicht zu einem noch folgenschwereren "clash of religions" werden. Christen werden in muslimisch dominierten Ländern gemordet, Schiiten bekriegen Sunniten, Araber Juden. US-Soldaten verbrennen - war es nur Leichtsinn? - den Koran und lösen damit gewaltsamen "heiligen Zorn" aus.
Unendliches Begehren
Wie vergeblich hatte doch Jesus versucht, die Bilder von einem gewaltbereiten zu einem erbarmungsreichen Gott umzuformen, dem er den Kosenamen "Abba", Väterlein, geben konnte. Vor geraumer Zeit hatte ein katholischer Universitätsprofessor unwidersprochen gotteslästerlich gesagt, dass "ein Gott, der immer nur vergeben und lieben dürfe, jedes männliche Persönlichkeitsprofil verliere": Was für ein Männer- und welches Gottesbild stecken hinter solch einer Aussage!
Um die Geschichte der Gewalt zu durchbrechen, wandelte Jesus in der widerstandslosen Hinnahme seiner brutalen Hinrichtung "Gewalt in Liebe" (so Benedikt XVI. am Weltjugendtag in Köln), hoffend, dass ihm seine Bewegung darin folgen werde. Hatte er in seiner Predigt am Berg die Friedensstifter vergeblich seliggepriesen?
Die Menschheitsgeschichte ist nicht nur von Gewalt geprägt. Ein dunkler Grundton ist auch die Gier, welche aus dem unendlichen Begehren entspringt, wenn es im Endlichen seine Erfüllung sucht. René Girard meint, dass wir dann unentwegt an anderen Maß nehmen und uns rivalisierend an diesen in unserem Handeln ausrichten. Ist das die nachteilhafte Seite der "Spiegelneuronen"? Eine Wurzel beständiger Gier, auch nach Profit?
Jetzt kommt keine Bankerschelte. Es wäre zu einfach - wenngleich kulturell schon seit den Zeiten Israels üblich (Lev 16,1-34) -, einen "Sündenbock" zu suchen und in die Wüste zu schicken. Dass man selbst Teil des Systems des Begehrens und der Gier ist, lässt sich dann klaglos übergehen.
Stecken wir nicht weltwirtschaftlich in einem destruktiven Karussell? Gewiss, es empfehlen uns immer mehr spirituelle Meister "lessness". Mit weniger "zu-Frieden" zu werden, ist ein durchaus modernes Motto. Aber das strebt niemand in der Sahelzone oder in Äthiopien an, wo Menschen hungern und verhungern. Es wird auch Mindestlohnempfängerinnen nicht trösten, wenn überdrüssige Reiche sich auf eine spirituelle Abmagerungskur begeben. Und doch: Alle tragen wir ein kulturelles Muster in uns, das uns auf "immer Mehr" trimmt.
In jeder Gehaltsverhandlung kann man von sozialistischen Gewerkschaftsführern, den bekämpften Kapitalismus stützend, vernehmen, dass es mehr Einkommen bei den Arbeitsnehmerinnen braucht, um die Kaufkraft zu stärken, den Binnenkonsum anzukurbeln, um damit die Wirtschaft zu stärken und Arbeitsplätze zu sichern.
Dieses Muster bleibt uns treu, auch wenn wir noch so viele Manager als Sündenböcke mit hohen Abfertigungen in die Finanzwüste schicken. Das Tragische ist, dass wir auch nach dem Platzen der imaginären Finanzblase - kurzzeitig erschüttert - weitermachen wie bisher, wohl wissend, dass wir nicht mehr lange so weitermachen können. Die neuen Blasen bilden sich längst schon wieder. Auch deren Platzen ist vorhersehbar. Und gerade in solchen Krisenzeiten "profitieren" Finanzhasardeure am meisten: Pure Gier zahlt sich aus. Von einer Bindung der Finanzwelt an das weltweite Gemeinwohl ist immer weniger zu merken.
Es wäre hier im Übrigen ein guter Platz, sich über die Korruption der Politiker zu entrüsten. Auch Korruption ist ein Moment an der Selbstbedienungsgier. Man nützt jede Position für seinen eigenen Vorteil, und das auf dem Rücken der Gemeinschaft. Das ist das Erschreckende: Vertreter der Kirchen predigen Respekt vor Kindern - und missbrauchen sie. Politiker predigen den Einsatz für das Gemeinwohl - und schädigen es. Nicht alle kirchlichen Mitarbeiter sind so. Auch nicht alle Politiker. Aber die schwarzen Schafe in Kirche und Politik offenbaren eine Grundhaltung, die sich bei den "Herausragenden" wie die Spitze eines Eisbergs zeigt.
Wir alle neigen dazu, "korrupt" zu sein und tragen dazu bei, mit unseren guten Absichten Gemeinwohlsysteme zum Zusammenbrechen zu bringen. Dann wird auf dem Arbeitsplatz gesurft, Arbeitsmaterial von dort mitgenommen, auf Amtskosten privat telefoniert, es wird selbstverständlich gepfuscht, Steuern werden hinterzogen. Es ist für jede und jeden leicht, im beruflichen Alltag öffentliche Mittel abzuzweigen. Das machen nicht nur die Großen, es geschieht auch im Kleinen und verursacht enormen volkswirtschaftlichen Schaden.
Fatale Urangst
Monika Renz, Theologin und Tiefenpsychologin, hat in einer beachtlichen Studie aufzudecken versucht, woher die Neigung des Menschen zu Gewalt und Gier kommt, zu der sich dann die Neigung gesellt, das Ganze nicht wahrhaben zu wollen, also sich auch vorzulügen, dass wir gar nicht so sind, wie wir sind: Auch vertuschen ist also keine bloß kirchliche Eigenschaft. Wir lügen uns heute kulturell alle etwas vor.
Ein Embryo erlebt, so Renz, im Mutterschoß eine stimmige Einheit. Er wächst mit einem Grundvertrauen in das Sein auf - wenn er eine gute Schwangerschaft erlebt, wie Fachleute hinzu fügen. Dann aber wird die Einheit durch die Geburt schlagartig zerbrochen. Kann sich das unentbehrliche Urvertrauen im "sozialen Mutterschoß" einer "heilen" Familie erhalten, neu aufbauen - oder geht es für ein Leben lang verloren?
An die Stelle des Urvertrauens kann eine fatale Urangst treten. Macht sich diese breit, dann wird - wie Girard nicht müde wird zu betonen - der Andere zum Rivalen des eigenen Glücks, an dem ich zudem ablese, was man haben könnte, aber noch nicht hat. Statt ein Leben aus Vertrauen zu riskieren, verbreitet sich ein Leben aus Angst. Der Angst aber - so Renz - meint der Verängstigte durch Absicherungsstrategien erfolgreich begegnen zu können: Gewalt, welche die Rivalen kleinhält und im Extremfall vernichtet. Oder ich häufe mir gierig Güter an, um eine Illusion schutzvoller Sicherheit zu erzeugen. Und das geschieht alles untergründig, in den Tiefen der Seelen und der Kultur.
Wird von da her verständlich, dass gerade reiche Kulturen immer mehr zu Angstkulturen mutieren? Warum bringt - so eine schon ältere Studie aus Vorarlberg - jedes vierte Kind, das in eine Grundschule eintritt, ein hohes Maß an therapiebedürftigen diffusen Ängsten mit? Frank Furedi hat es nach "9/11" auf den wissenschaftlichen Begriff gebracht. Unsere modernen Gesellschaften mögen Arbeitsgesellschaften, Fungesellschaften, Konsumgesellschaften, Wissensgesellschaften sein: Im Grunde wandeln sie sich aber immer mehr in "a culture of fear".
Wo Angst regiert, wächst das Böse. Der Angstbesetzte bewahrt zwar sein schönes Selbstbild eines solidarischen und religiösen Menschen. Aber das, was er will, tut er nicht, sondern er tut das, was er nicht will. Sören Kierkegard, Eugen Drewermann, Eugen Biser, Benedikt XVI: Einhellig lehren sie bibelgestützt, dass die Angst den Menschen vom Guten abhält und böse macht. Angst entsolidarisiert, wie eine Studie in Österreich zeigt. Wie töricht, wenn Politiker um Wählerstimmen zu mehren, Ängste schüren und damit jene Soliditätsressourcen zerstören, ohne die es keine gerechte und friedvolle Zukunft geben kann!
"Erbschuld"
Die meisten von uns haben keinen Zugang mehr zum alten und immer schon missverständlichen Bildwort von der "Erbschuld". René Girard hat diese semantische Berührungsangst nicht. In der menschheitsalten Geschichte von Rivalität, Gier und Gewalt erkennt er genau das, was das überkommene Wort sagen wollte: Wir sind verstrickt, gefangen - und das in einer "sinnlosen, von den Vätern ererbten Lebensweise", so der erste Petrusbrief (1,18); heute würde ich in diesen Satz auch gerne noch die Mütter einfügen. Eine Befreiung aus dieser Lebensweise ist derzeit nicht in Sicht - eher eine dramatische Eskalation.
Was dagegen nicht hilft, ist Moralisieren. Das wusste schon der große Europäer Paulus. Als er voll tiefer Selbsterkenntnis klagt, dass wir tun, was wir nicht wollen, und nicht tun, was wir wollen, fragt er, ob das "Gesetz", also das Vorgeschriebene, die moralischen Gesetze und die beschworenen Werte helfen könnten. Seine Antwort: leider nein. Das Gesetz ist wie ein Spiegel, stellt Paulus nüchtern fest: In diesem erkennen wir, dass wir das Gute nicht hinkriegen und im Bösen gefangen bleiben.
Was allerdings voraussetzt, dass wir das Gute kennen. Vielleicht sollten sich zumal die christlichen Kirchen darauf besinnen, dass die Menschen durchaus wissen, was gut wäre. Die Europäische Wertestudie macht begründet Hoffnung darauf, dass die Menschen moralisch nicht so ahnungslos und schlecht sind, wie wir meinen, dass sie wären. Was sehr viele - auch uns selbst - daran hindert, das zu tun, was wir für gut halten, ist eben die tiefsitzende Angst: letztlich vor dem Tod, der Vergeblichkeit, dem Zukurzkommen in den achtzig oder neunzig Jahren, in die wir uns postchristlich eingemauert haben und in denen wir lebenshastig und angstbesetzt den Himmel auf Erden ernötigen wollen: in Liebe, Arbeit und Amüsement.
Urösterliche Hoffnung
Was unsere Kultur also dringend brauchte, ist nicht Moral - und sind auch keine Werte. Unsere Kultur braucht Heilung von jener Urangst, die uns nötigt, uns durch Gewalt, Gier und Lüge selbst zu verteidigen und angestrengt für die Maximierung des maßlosen Glücks in mäßiger Zeit (Marianne Gronemeyer) zu sorgen. Diese Heilung aus der Urangst könnte österliche Zuversicht wecken. Denn die Kernbotschaft des Hauptfestes der Christen lautet: Nicht der Tod und die Urangst vor ihm haben das letzte Wort über uns, sondern die Liebe.
Der Grund: Einer von uns, der Todesangst und Tod erlitten hat, weil er die Gewalt versanden lassen wollte, ist nicht im Tod geblieben. Er wird als der "Erstgeborene der Toten" (Kol 1,18) besungen, auf den hin alles erschaffen ist - was ja mitbesagt, dass es Nachgeborene gibt. Könnte also nicht durch die Osterbotschaft, die just nicht den zwölf Männern, sondern der Frau Maria von Magdala anvertraut wurde, jene Angst gezähmt werden, die uns unfähig macht, solidarisch zu lieben?
Die große Versammlung der Kirche in der Bundesrepublik Deutschland 1975 in Würzburg brachte es im Dokument "Unsere Hoffnung" (es trägt die Handschrift des großen Theologen Johann B. Metz) auf den Punkt: "Die Hoffnung auf die Auferweckung der Toten, der Glaube an die Durchbrechung der Schranke des Todes macht uns frei zu einem Leben gegen die reine Selbstbehauptung, deren Wahrheit der Tod ist. Diese Hoffnung stiftet uns dazu an, für Andere da zu sein, das Leben Anderer durch solidarisches und stellvertretendes Leiden zu verwandeln. Darin machen wir unsere Hoffnung anschaulich und lebendig, darin erfahren wir uns und teilen uns mit als österliche Menschen. Wir wissen, dass wir vom Tod zum Leben hinübergeschritten sind, weil wir die Brüder lieben; wer nicht liebt, der bleibt im Tode‘ (1 Joh 3,14)."
Es ist eine Hoffnung. Nicht weniger. Urösterlich leben wir aus ihr.
Paul Michael Zulehner, geboren 1939 in Wien, ist Theologe und katholischer Priester. Der seit 2008 emeritierte Universitätsprofessor für Pastoraltheologie gehört zu den bekanntesten Religionssoziologen Europas.