In der Flüchtlingsfrage wird die Türkei für Angela Merkel zunehmend wichtiger.
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Berlin/Ankara. Dass sich der Wind gedreht hat, war bereits im vergangenen Herbst zu beobachten. Damals war nicht nur der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zum ersten Mal seit langer Zeit wieder auf Besuch in Brüssel, wenige Tage später flog auch die deutsche Kanzlerin nach Ankara. Dass die Türkei sich mitten im Wahlkampf befand und ihr Besuch als Unterstützung für den umstrittenen türkischen Staatschef interpretiert werden konnte, hatte Angela Merkel dabei in Kauf genommen. Zu wichtig erschien ihr schon damals die Türkei für die Bewältigung der Flüchtlingskrise.
Eine spezielle Beziehung
Knapp vier Monate später ist die Kanzlerin allerdings noch viel stärker auf jenes Land angewiesen, um das europäische Politiker in den vergangenen Jahren wegen rechtsstaatlicher Bedenken und niedergeknüppelter Demonstrationen gerne einen Bogen gemacht hatten. Denn spätestens seit Österreich die Begrenzung des Flüchtlingszustroms beschlossen und damit einen Domino-Effekt in den Balkan-Staaten ausgelöst hat, ist klar, dass die große europäische Lösung, die Merkel anstrebt, nun auch schon an den stärksten Fundamenten zu erodieren beginnt. Wenn sich die EU-Innenminister am Montag wieder in Brüssel treffen, wird es nicht um gemeinsame europäische Ansätze gehen, sondern vor allem die Fortführung der Grenzkontrollen, die einige Länder zuletzt eingeführt haben.
Luft könnte der mächtigesten, aber im Augenblick ziemlich allein dastehenden Politikerin Europas nur verschaffen, wenn die Zahl der über die Türkei kommenden Flüchtlinge bald sinkt. Entsprechend aufbereitet war auch der Besuch des türkischen Premiers Ahmet Davutoglu am Freitag in Berlin. Der Gast aus Ankara wurde von Merkel nicht nur mit militärischen Ehren empfangen. Mit den nun zum ersten Mal abgehaltenen deutsch-türkischen Regierungskonsultationen ist die Türkei für die deutsche Diplomatie auch in den exklusiven Klub jener Länder aufgerückt, mit denen spezielle Beziehungen unterhalten werden. Vor der Türkei wurden erst zehn Länder mit diesem Prädikat geadelt.
Davutoglu mag sich dadurch geschmeichelt fühlen, schließlich geht es für die Türkei auch stark um jenen Respekt, den man aus Europa lange vermisst hatte. Und auch bei der gemeinsamen Pressekonferenz hatten die beiden Regierungschefs viele Freundlichkeiten ausgetauscht. Von einem "historischen Schritt" Merkels war da unter anderem die Rede und von der großen Aufgabe, die die Türkei bewältige.
Zögern auf beiden Seiten
Doch bereits unmittelbar vor dem Berliner Treffen war schon offensichtlich geworden, wie tief die Gräben in der neu belebten Partnerschaft noch sind. So will sich die Türkei etwa nicht mit jenen drei Milliarden Euro zufriedengeben, die ihr die EU im November für die Versorgung der 2,2 Millionen syrischen Flüchtlinge im Land zugesichert hat. Davutoglu argumentiert dabei vor allem damit, dass die Türkei bereits neun Milliarden Euro für die Flüchtlinge ausgegeben hat. Die drei Milliarden Euro der EU seien nur dazu da, "den politischen Willen zur Lastenteilung zu zeigen".
Dass nach unzähligen Verhandlungsrunden und einem eigens einberufenen EU-Gipfel mit der Türkei noch immer vom politischen Willen die Rede ist, hat wohl vor allem damit zu tun, dass bisher keine der beide Seiten, die bereits in einem Abkommen vereinbarten Maßnahmen mit Nachdruck umgesetzt hat. So sind die von der EU versprochenen drei Milliarden Euro noch nicht in der Türkei angekommen, weil Italien sich zuletzt bei der Aufstellung der Mittel quergelegt hat. Auf der anderen Seite hat die Türkei zwar die Visumspflicht für nicht auf dem Landweg einreisende Syrer eingeführt und zugestimmt, dass die Flüchtlinge im Land nun auch eine Arbeitserlaubnis bekommen. Doch die Zahl der Flüchtlinge, die von der türkischen Küste auf die nahen griechischen Inseln übersetzen, hat sich bei weitem nicht so stark verringert, wie sich das vor allem Deutschland erhofft hat. Wenig Fortschritte gab es bisher auch bei den Verhandlungen über die Details des vereinbarten Rücknahmeabkommens.
Verlorene Freunde
Merkel muss sich damit vor allem an die Hoffnung klammern, dass sich auch die Türkei mit einem geringer werdenden politischen Spielraum konfrontiert sieht und daher selbst Partner braucht. So ist die Zahl der Staaten, mit denen die Türkei gute Beziehungen unterhält, nicht erst seit dem Abschuss eines russischen Militärflugzeugs durch einen türkischen Abfangjäger spürbar geschrumpft. Das Land ist zudem in viele ungelöste Konflikte wie etwa mit den Kurden oder Armenien verstrickt und gerät wirtschaftlich zunehmend in schwieriges Fahrwasser.
Weit weniger Zugkraft könnte hingegen die von der EU versprochene Fortsetzung des Beitrittsprozesses haben. Denn bereits jetzt schon dürfte klar sein, dass alles, was über die Öffnung der bereits vereinbarten Kapitel hinausgeht, innerhalb der EU nur schwer durchzusetzen ist. Ähnliches gilt für die Visa-Erleichterungen, die der Türkei in Aussicht gestellt wurden. Denn dass die großen EU-Staaten wie Deutschland oder Frankreich am Ende wirklich einer völligen Visafreiheit für Türken zustimmen, gilt als ungewiss.
In jedem Fall aber droht der deutschen Kanzlerin die Zeit davonzulaufen. Wenn es bis zum EU-Gipfel am 18. und 19. Februar nicht gelungen ist, die Zahl der Flüchtlingsankünfte spürbar zu senken, dürfte es selbst für Merkel schwer werden, sich gegen eine Schließung der Grenzen zu wehren.