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Hohe Lebenskosten - zahlt der Präsident den politischen Preis dafür?

Von Martyna Czarnowska

Politik

Galoppierende Inflation, steigende Lebensmittelpreise, der Verlust an Glaubwürdigkeit der Finanzpolitik: Warum die wirtschaftliche Lage der Türkei entscheidend für den Wahlausgang sein wird, erklärt Ökonom Güven Sak.


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Für Güven Sak ist es der "Es ist die Wirtschaft, Dummkopf!"-Moment. Diesen sieht der Ökonom für die Türkei gekommen. Den Spruch "It’s the economy, stupid!" prägte James Carville als Kopf der Wahlkampagne von Bill Clinton 1992, der dann US-Präsident wurde. In der Türkei stehen am Sonntag Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an. Und die wirtschaftliche Lage des Landes mit galoppierender Inflation und steigenden Lebenskosten werde entscheidend für den Ausgang sein, sagt Sak.

"Wiener Zeitung": Bevor die bis heute regierende AKP von Recep Tayyip Erdogan 2002 an die Macht kam, steckte die Türkei in einer Wirtschaftskrise. Nun ist das wieder der Fall. Lassen sich die beiden Situationen vergleichen?Güven Sak: So wie 2001 sind wir auch jetzt mitten in einer Zahlungsbilanzkrise, und die Inflation ist hoch. Zwar sind das Bankensystem und der Unternehmenssektor in einer besseren Verfassung als 2001, und das Budget stellt sich ebenfalls besser dar - auch wenn wir nicht alle Zahlen kennen und nicht wissen, wie korrekt die Angaben sind. Das Budgetdefizit ist auf rund sieben Prozent gestiegen, aber die Staatsverschuldung beträgt nur ein Viertel von jener im Jahr 2001. Es gibt also ökonomischen Spielraum. Doch das größte Problem, das wir nun haben, ist die Inflation. Sie hat zu Verarmung geführt. Wir haben nun also eine Krise der Lebenskosten.

Als die AKP an die Macht kam, sank die Inflation schnell. Damals bekam die Türkei Finanzhilfen vom Internationalen Währungsfonds (IWF), es hat Anpassungsprogramme gegeben. Nun ist die Inflation auf dem Niveau wie damals. Und die Armutsquote, die nach 2001 massiv gesenkt wurde, steigt seit ein paar Jahren erneut an. 2002 mussten 37 Prozent der Türken mit 5,5 Dollar am Tag auskommen. Dieser Anteil wurde im Laufe der Jahre auf acht Prozent gesenkt. Doch nach 2018 stieg er wieder - und lag 2020 bei zwölf Prozent. Danach hat das nationale Statistikamt keine Zahlen mehr veröffentlicht.

Als einen der Gründe, warum die Regierung die Inflation nicht einbremsen kann, sehen etliche Experten die Eingriffe in die Zentralbank an. Diese hat, wie von Präsident Erdogan gewünscht, den Leitzins mehrmals gesenkt.

Damit vergrößert sich auch die Kluft bei der Glaub- und Vertrauenswürdigkeit der Finanzpolitik. Gerade bei der Zentralbank ist diese Lücke massiv. Seit der Einführung des Präsidialsystems, das ich eher als ein Arrangement zur Unterzeichnung von Dokumenten bezeichne, haben sich die Amtszeiten etwa der Zentralbankgouverneure deutlich verkürzt. Das untergräbt auch die Glaubwürdigkeit von Präsident Erdogan selbst.

Werden Erdogan und seine AKP deswegen die Wahlen am Sonntag verlieren?

Es gibt zwei Arten von Ländern. Bei den einen wird das Wahlergebnis erst nach der Wahl klar, bei den anderen ist der Ausgang schon vor dem Votum bekannt. Die Türkei gehört zur ersten Gruppe. Es ist aber wahrscheinlich, dass Erdogan sowohl das Amt des Präsidenten als auch die Mehrheit im Parlament verliert.

Könnte er nicht mit dem Argument reüssieren: "Ich habe euch schon einmal aus der Krise geführt, und nun werde ich es wieder machen"?

Es wird sehr schwierig für ihn, die Glaubwürdigkeit wiederherzustellen und ein starkes Wirtschaftsprogramm zu starten. Alle Weggefährten Erdogans, die mit ihm die Wirtschaftsreformen der 2000er Jahre gestaltet haben, sind nicht mehr bei ihm. Sie sind gegangen oder mussten gehen. Außerdem gab es damals ein parlamentarisches System mit gewissen Kontrollmechanismen. Jetzt können Präsident und Regierung mit dem Abgeordnetenhaus zusammenarbeiten - müssen es aber nicht, wenn sie es nicht möchten.

Ein weiterer Aspekt ist eben die Lebenskostenkrise. Sie führte dazu, dass auch eine Gruppe von Menschen, die sich zur Mittelklasse zählte und deren Situation sich in den vergangenen Jahren verbessert hat, nun wieder an Wohlstand einbüßt - wegen Erdogans Wirtschaftspolitik. Früher wurde mehr verteilt; das Wachstum hat viele mitgenommen. Darum hat die AKP lange Zeit Wahlen gewonnen. Doch nun gibt es kein Wachstum mehr, und niemand wird mehr mitgenommen. Es gibt auch keine Lastenteilung bei den steigenden Lebenskosten. Viele Menschen sind desillusioniert; die AKP hat ihren Zauber verloren. Das wird bei den Wahlen eine wichtige Rolle spielen.

Wie glaubwürdig ist die Opposition? Das Wahlbündnis rund um Kemal Kilicdaroglu, der Erdogan herausfordert, tritt mit etlichen Versprechen an. Unter anderem soll die Inflationsrate von derzeit fast 50 Prozent binnen zwei Jahren dauerhaft auf eine einstellige Zahl gedrückt werden.

Für die Opposition wäre es einfacher, eine ökonomische Stabilisierung zu erreichen. Sie hat ihre Berechnungen angestellt. Diese sehr unterschiedlichen Parteien haben sich immerhin auf eine gemeinsame Sprache, ein gemeinsames Vorgehen geeinigt. Zunächst müssten sie einen starken Zentralbankgouverneur und einen guten Finanzminister finden. Es geht zum Beispiel schlicht darum, dass der Gouverneur Zinsen anheben darf, wenn es notwendig ist. Und wenn die Opposition ihre Versprechen erfüllt, dann werden die Inflationserwartungen zurückgehen. Wir werden zur Normalität zurückkehren.

Nach den Erdbeben Anfang Februar müssen ganze Stadtteile in den betroffenen Regionen wiederaufgebaut werden. Wie hoch werden die Kosten dafür sein?

Nach unseren Schätzungen sind sie, die gesamte Finanzsituation betrachtend, nicht dermaßen hoch. Sie würden die Staatsverschuldung nicht massiv, sondern um 6, 7 Prozent vergrößern. Allerdings gibt es dann noch die Pensionsreform und diverse Sozialausgaben, deren Auswirkungen nicht klar sind. Macht Erdogan weiter und ohne ein angemessenes Wirtschaftsprogramm, werden wir vielleicht wieder den IWF brauchen. Gewinnt Erdogan die Wahlen, braucht er etwas Dramatisches, um das Vertrauen wieder aufzubauen. Ich denke, es ist jetzt tatsächlich der "Es ist die Wirtschaft, Dummkopf!"-Moment für die Türkei.

Zur Person~