Zweifel an Verhältnismäßigkeit des Strafausmaßes.
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London. Nach den Krawallen und Plünderungen in Großbritannien reagiert die Justiz mit hohen Haftstrafen für die Täter. Dies ist ganz im Sinne des konservativen Premiers David Cameron, der einen "kompromisslosen Krieg gegen Banden und Bandenkriminalität" versprochen hat. Damit stößt er auf großen Widerhall in der schockierten Öffentlichkeit. Aber es mehren sich auch Stimmen, die an der Verhältnismäßigkeit der verhängten Strafen zweifeln.
So wurde etwa ein 23-Jähriger in Brixton zu einem halben Jahr Haft verurteilt, weil er während der Unruhen Mineralwasserflaschen gestohlen hatte. Am Dienstag wurden zwei Männer im Alter von 21 und 22 Jahren zu vier Jahren Haft verdonnert, weil sie über die Internet-Plattform zu Randalen und Plünderungen in den nordwestenglischen Städten Northwich und Warrington aufgerufen hatten. Dort war nicht viel passiert, der Richter begründete dennoch das Strafmaß mit der abschreckenden Wirkung auf andere.
Tom Brake, Abgeordneter der Liberaldemokraten, die mit den Tories in der Regierung sitzen, warnte dennoch vor reiner Vergeltungsjustiz. Wären die gleichen Vergehen einen Tag vor den Unruhen begangen worden, wären die Strafen wohl niedriger ausgefallen, meint Brake und trifft sich darin mit einigen Experten. So meinte etwa der Ex-Vorsitzende der Vereinigung der Strafrechtsanwälte, Paul Mendelle, dass hohe Strafen Jobverlust und damit weitere soziale Spaltungen erzeugen könnten. "Die finalen Kosten für die Gemeinschaft könnten höher ausfallen als die des ursprünglichen Verbrechens", sagte er. Ein anderer Experte verwies darauf, dass vier Jahre normalerweise für schwere Körperverletzung, bewaffneten Raub oder Vergewaltigung verhängt würden. Der prominente Strafverteidiger John Cooper glaubt, dass die Strafe über das Ziel hinausschießt und vom Berufungsgericht vermutlich reduziert würde.
Insgesamt sind laut BBC 2770 Personen nach den Unruhen festgenommen worden. 1277 sind bereits vor Gericht gestellt worden. 64 Prozent wurden in Untersuchungshaft genommen, darunter ein 16-Jähriger, der des Mordes an einem 68-jährigen Pensionisten verdächtigt wird.
Orange Aufräumer und Ausgangssperren
Darüber, wie mit den meist jungen Tätern umgegangen werden soll, gibt es verschiedenste Vorschläge. Vizepremier Nick Clegg von den Liberaldemokraten meinte, jugendliche Randalierer sollten die von ihnen angerichteten Schäden selbst beseitigen und dabei zur Kennzeichnung orangefarbene Kleidung tragen. Innenministerin Theresa May möchte generelle Ausgangssperren in bestimmten Gegenden ermöglichen, auch eine Art Hausarrest für Jugendliche unter 16 Jahren wird erwogen. Beim Labour-Parlamentarier Paul Flynn stießen solche Aktionen auf wenig Gegenliebe: "Das ist kein Regieren, das ist nur eine Reihe von wilden Panikreaktionen, um Popularität zurückzugewinnen," meinte er.
Eine Absage erteilte May indes den Plänen von Regierungschef Cameron, den als "Null-Toleranz"-Verfechter geltenden US-Amerikaner William Bratton zum Chef von Scotland Yard zu machen, dessen Führung seit dem Abhörskandal um Rupert Murdochs Medienimperium verwaist ist. Der Chef der Londoner Metropolitan Police werde weiterhin ein Brite sein, sagte die Ministerin. Bratton soll Berater werden.
Schlechte Nachrichten hatte May aber auch für die Polizeigewerkschaft. Man halte an den Plänen fest, bis 2015 die Ausgaben für die Polizei um 15 Prozent zu kürzen und 16.000 Posten einzusparen. Der Chef der Polizeigewerkschaft sprach von einem "Schlag ins Gesicht" und Labour-Chef Ed Miliband zeigte sich sehr besorgt über diese Unnachgiebigkeit.
Für Unternehmen und Geschäfte in den Londoner Stadtvierteln, die wegen der Krawalle schließen mussten, soll ein Hilfsfonds eingerichtet werden. Von anderen sozialen Maßnahmen ist vorläufig nichts zu hören. Von der Wirtschaft kommen jedenfalls keine guten Nachrichten. Die Arbeitslosenquote im Vereinigten Königreich stieg in den letzten drei Monaten anders als erwartet auf 7,9 Prozent. Und die Lohnerhöhungen lagen weit unter der Inflationsrate, die mehr als vier Prozent beträgt.