Die Fluchtwege von Nord- nach Südkorea sind gefährlich und verschlungen.
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Seoul. Mit ihrer schmächtigen Statur und der hauchzarten Stimme wirkt die Endfünfzigerin Park Sun-Young, als könne sie keiner Fliege etwas zuleide tun. Doch an diesem Nachmittag kocht die ehemalige Abgeordnete geradezu über vor Wut. Mit geballten Fäusten, wie zur Drohung Richtung Himmel gestreckt, schreit sie gegen die aberdutzenden Polizisten an, die sich vor ihr aufgebaut haben. "Schluss mit Folter und Menschenrechtsverletzung!", ruft die Südkoreanerin immer wieder in die Menge. Park steht mit rund 30 weiteren Demonstranten vor der chinesischen Botschaft in Seoul - und das zum mittlerweile 200. Tag in Folge.
Alles begann, als China im Februar wieder einmal 31 nordkoreanische Flüchtlinge festnahm, darunter auch ein Baby, um sie zurück nach Nordkorea zu schicken. Dort würden Abtrünnigen direkt an der Grenze hingerichtet oder landeten schlussendlich in Straflagern, regelrechten Todescamps, aus denen nur die wenigsten lebendig herauskommen werden, sagt Frau Park. Täglich zwölf Stunden Zwangsarbeit, in Minen oder auf Feldern, müssen die Internierten bei katastrophaler Nahrungsversorgung leisten, sagt sie. Eine falsche Bewegung ohne Erlaubnis des Wächters kann bereits das sichere Todesurteil bedeuten. "Ich habe sicher mehr als 100 Leichen begraben müssen", erinnert sich der ehemalige Häftling Lee Yeong-Kuk über seine Zeit im Zwangslager: "Am Anfang war es schrecklich, doch mit der Zeit entwickelte ich eine Taubheit gegenüber all dem Leid."
Allein in den sechs politischen Internierungslagern Nordkoreas sitzen derzeit nach Schätzungen der südkoreanischen Regierung über 150.000 Menschen ein. Wer dort landet, wird oft vollkommen willkürlich entschieden: Kim Young-Sun etwa, eine Tanzlehrerin aus Pjöngjang, wurde ihre Freundschaft zur ersten Ehefrau Kim Jongs-Ils zum Verhängnis. Für dieses "Vergehen" wurde ihre komplette Familie inhaftiert, wobei die Eltern im Lager aufgrund von Mangelernährung starben. 1966 traf es die gesamte Fußballnationalmannschaft, da sie während der Weltmeisterschaft in Mexiko am Vorabend eines Spiels gefeiert haben soll.
"In unser jüngeren Geschichte mussten viel zu viele ohne eigenes Verschulden leiden", sagt Frau Park. Die Jus-Professorin setzt sich ehrenamtlich für diejenigen ein, die drohen, in Vergessenheit zu geraten. Im Frühjahr gründete sie Mulmangcho, eine Non-Profit-Organisation, die sich vor allem der Unterstützung von nordkoreanischen Flüchtlingen verschrieben hat.
Fluchtweg China
Choi Yeong-Ok ist eine von ihnen. Trotz des unfassbaren Leids, welches sie in ihren 47 Jahren erfahren hat, konnte sie bis heute ihr warmherziges Lächeln beibehalten. Der Alltag in ihrem Heimatland, so beteuert sie gleich zu Beginn des Gesprächs, wäre zwar schon immer hart gewesen, aber trotz allem ertragbar. Nie hätte sie auch nur im Entferntesten daran gedacht, ins Ausland zu flüchten - schon gar nicht nach Südkorea. Dort, so wurde ihr auf der Universität stets eingetrichtert, lebten nur wenige wohlhabende Großgrundbesitzer, die die breite Masse an bettelarmen Leuten unterdrücke.
Dann brachen die Neunziger herein, und mit ihnen die Zeit der Hungersnöte. Seitdem steht im Umkreis von etlichen Kilometern ihres Heimatdorfes, ein ursprünglich waldreiches Gebiet, kein einziger Baum mehr. Alle sind sie abgestorben, weil sich die Dorfbewohner sich fast ausschließlich von Baumrinde und Gras ernährten.
Später bekamen sie sogenannte "essbare Erden" von der Regierung zugeteilt, die sie zu Pfannkuchen, Brot oder Nudeln kochten. Die Erde liegt jedoch so schwer im Magen, dass sie nicht ordentlich verdaut wird. "Man kann nicht aufs Klo gehen, denn die Erde wird bereits im Darm steinhart", berichtet Choi. Jedes Mal musste sie die Exkremente händisch aus den Därmen ihrer weinenden Kinder herausholen, bis ihre After zu bluten anfingen. Dennoch aß die Familie am nächsten Tag wieder die gleiche Kost, und das über Jahre. Bis zu 40 Kilometer lief Choi gar durch die Nacht, nur um ein neues Kilo der essbaren Erde zu bekommen.
"Viele glauben mir heute immer noch nicht, wenn ich von damals spreche", meint Choi. Jüngst referierte sie gar im südkoreanischen Parlament über die Hungersnöte - und wurde anschließend von ungläubigen Journalisten als Lügnerin bezeichnet.
1998 hatte Frau Choi die folgenreichste Entscheidung ihres Lebens gefasst: Unter Tränen hatte sie ihre damals fünf- und siebenjährigen Töchter bei den Großeltern abgegeben und verschwand in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in eine ungewisse Zukunft.
Wie Choi fliehen über 90 Prozent der nordkoreanischen Flüchtlinge über China. Sie überqueren meist in einer Tour de Force das komplette Land und reisen anschließend via Laos, Kambodscha oder Vietnam nach Südkorea ein. "Die Flüchtlinge sind im Grunde dreimal in Lebensgefahr", weiß Menschenrechtlerin Park: "Zum einen an der nordkoreanischen Grenze, dann beim Überqueren des Mekong Flusses und nicht zuletzt durch die extremen Wetterbedingungen: Im Sommer sterben viele durch die Hitze, im Winter erfrieren sie."
Als Choi in China ankam, wurde sie direkt am Bahnhof von Menschenhändlern gekidnappt und für umgerechnet 700 Euro an einen chinesischen Bauern verkauft. Jahrelang lebte sie dort wie eine Gefangene, erzählt sie, wurde fast täglich geschlagen und vergewaltigt - bis sie im Jahr 2006 fliehen konnte, wie sie erzählt.
Durch die Wüste Gobi
Ein Schlepper brachte sie schließlich bis zur Wüste Gobi, dem Grenzgebiet zur Mongolei. Über drei Tage lang marschierte Choi im bitteren Winter weiter Richtung Norden, ohne je eine Spur menschlicher Existenz zu vorzufinden. Am Ende ihrer Kräfte angelangt, legte sie eine letzte Pause ein um sich zu erleichtern. Doch statt Urin entlud sich ein Schwall Blut aus ihrem Körper - unwissend, dass sie schwanger war, hatte Choi eine Fehlgeburt erlitten. Vor Erschöpfung brach sie schließlich zusammen und blieb einfach liegen, in dem festen Bewusstsein, dass ihre letzte Stunde geschlagen hat.
Als sich ihre Augen das nächste Mal öffnen, befand sich Choi bereits in einem mongolischen Krankenhaus, Soldaten hatten die Bewusstlose in der Wüste aufgelesen. Noch bevor sie überhaupt realisierte, dass die Zehen ihres linken Fußes aufgrund von Erfrierungen wegoperiert wurden, lag sie schon im Flugzeug Richtung Südkorea - auf zum High-Tech-Land, der Heimat von Samsung und 14.-größte Volkswirtschaft der Welt.
Vor der chinesischen Botschaft in Seoul nimmt Frau Park ein Paket in die Hand und schreitet damit entschlossenen Schrittes auf den Eingang der Botschaft zu. Sie führt eine, für einen Botschafter mehr als ungewöhnliche Fracht mit sich: eine Portion frisch gegrillten Hähnchens. Die symbolische Botschaft dahinter lautet: Die Hühner wurden durch Elektroschocks betäubt, eine ähnliche Behandlung, die auch die nordkoreanischen Flüchtlinge in den Zwangslagern ihres Heimatlands erwarten wird, wenn ihr eure Rückführungspolitik nicht ändert.
Die Polizisten verbarrikadieren plötzlich Parks Weg - das Paket darf nicht in die Botschaft. Erst kommt es zu energischen Diskussionen mit den Ordnungshütern, dann eskaliert die Situation: Ein aufgebrachter Demonstrant stürmt auf die voll befahrene Straße und startet eine Sitzblockade. Nach einem Handgemenge wird er widerwillig abgeführt.
Verärgert verlässt Park die Proteste und steigt in ihren Wagen. "Natürlich müssen die Polizisten, die Botschaft beschützen, doch dass wir nicht mal unsere Botschaft überreichen dürfen, ging zu weit", klagt die Südkoreanerin, während sie sich ihren Weg durch das nachmittägliche Seoul bahnt. Zur Rushhour kommt sie nur mühsam voran, erst nach einer guten Stunde weicht der Asphaltdschungel der 20 Millionen Metropole kleineren Hütten neben idyllischen Hügellandschaften.
Eine Schule für Flüchtlinge
Nach einer weiteren Stunde hat Park ihr Ziel erreicht. Eingebettet an einem malerischen Hang befindet sich ein kahler Rohbau von der Größe einer Turnhalle. Hier soll schon bald entstehen, wovon die ehemalige Abgeordnete bereits seit Jahren träumt: eine Schule für nordkoreanische Flüchtlinge. Neben Unterricht in Kleinstklassen sollen die Kinder hier zusätzlich psychologische Betreuung bekommen, gar einjährige Sprachkurse in den USA sind geplant.
Vor dem Rohbau trifft Frau Park die Nordkoreanerin Choi. Für die Flüchtlingsfrau symbolisiert die Schule ihr neues, zukünftiges Leben. Trotz Theologie-Studiums an einer renommierten südkoreanischen Universität hat sie in ihrer Wahlheimat bis aus Aushilfsjobs nie eine richtige Arbeit bekommen, zu groß war das Misstrauen der Nordkoreanerin gegenüber. Nun soll sie an der Schule als Lehrerin arbeiten - und den Kindern die Integration in die südkoreanische Gesellschaft erleichtern.
Sie sollen es einmal leichter haben, sich im Land am Han-Fluss zurechtzufinden. Der Leidensweg der Flüchtlinge ist längst nicht beendet, sobald sie die Grenze zu Südkorea überquert haben. Choi wurde wie so viele andere als Verräterin beschimpft; und innerlich fühlte sie sich auch so, schließlich hatte sie ihre Töchter in Nordkorea zurückgelassen. Die unendliche Hilflosigkeit, als sie erfuhr, dass die beiden Kinder aufgrund ihrer Flucht für eine Dekade lang in ein Arbeitslager gesteckt worden sind, schmerzte mehr als jede vorige Pein zusammen.
Scham im Alltag
Hinzu kam die ständige Scham im Alltag; nicht zu wissen, wie man im Supermarkt einkauft, am Bankomaten Geld abhebt oder beim Busfahrer sein Ticket bezahlt. Viele Nordkoreaner empfinden gar die Konkurrenz in der leistungsorientierten Gesellschaft Südkoreas als so bedrückend, dass sie freiwillig zurückkehren.
Während Choi dies erzählt, liegt neben ihr ein Smartphone, welches sie hin und wieder aufpickt um Chatnachrichten zu senden. Ein Zimmer weiter steht ein prall gefüllter Kühlschrank; und vor dem Haus ihr eigenes Auto. Zwischen ihrem alten und neuen Leben liegen zwar nur 100 Kilometer, der Weg dahin war jedoch unendlich weit.
Auch wenn Choi heute unter Depressionen leidet, Magenkrebs hat und immer noch täglich fürchterliche Knochenschmerzen, so hat sie sich doch eine Existenz aufgebaut, von der sie vor Jahren noch nicht einmal zu träumen wagte. Doch das größte Glück fand Choi schließlich im April diesen Jahres: als sie nämlich ihre jüngste Tochter, die ebenfalls flüchtete, nach 16 Jahren wieder in ihre Arme nehmen konnte.
Doch eine Wiedervereinigung, so hofft Choi Young-Ok von ganzen Herzen, möchte sie in ihrem Leben noch miterleben: Die ihres Heimatlandes.