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Homeoffice: Hypothek für Arbeitnehmer-Rechte

Von Martin Tschiderer

Wirtschaft
Als Astgemeinschaft wurden ab den 1950er-Jahren die Beziehungen zwischen den organisierten Arbeitgebern und Arbeitnehmern beschrieben. Beide würden auf demselben Ast sitzen, so das Bild. Sägt einer daran, fallen beide herunter.Mit den aktuell Hunderttausenden Arbeitslosen sitzen jene Unternehmen, die gut durch die Krise kommen, in diesem Verhältnis indessen gleichsam auf einem längeren Ast. 
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Mit der Heimarbeit fällt ein zentrales Instrument zum betrieblichen Interessensausgleich weg: Der persönliche Austausch zwischen Beschäftigten. Droht eine Gefahr der Entsolidarisierung unter Arbeitnehmern?


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In etlichen Branchen befindet sich der Arbeitsplatz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern inzwischen in den eigenen vier Wänden. Und von der Kommunikations- über die Finanz- bis hin zur Versicherungsbranche registrieren Unternehmen, wie Produktivität ohne nennenswerte Einschränkungen auch im Homeoffice-Betrieb möglich ist. Eine Einschätzung, die im Prä-Corona-Zeitalter in vielen Vorstandsetagen nicht unbedingt mehrheitsfähig war.

So manchem Beschäftigten kommt diese Erkenntnis durchaus zugute. Vor allem, wenn zu Hause keine Kinder zu betreuen sind, kann das Arbeiten aus der eigenen Wohnung zeitliche Effizienzsteigerungen bedeuten: Anfahrtswege fallen weg, Besprechungen, Sitzungen und Meetings sind im Konferenz-Videocall oft kürzer als bei physischer Präsenz.

Zeiten des Spardrucks sind Zeiten steigenden Drucks auf Beschäftigte

Doch strukturell birgt die neue Arbeitswelt Risiken. Denn Zeiten des krisenbedingten Spardrucks sind auch Zeiten steigenden Drucks auf Beschäftigte - auch abseits der Hunderttausenden, die aufgrund der Pandemie ihren Job verloren. Bereits an die 900.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind in Österreich in Kurzarbeit - und damit mit größeren Einkommenseinbußen konfrontiert. Dazu drängen viele Unternehmen auf den großflächigen Abbau von Zeitausgleich und Urlaubstagen - was in der Praxis nicht immer in so wechselseitigem Einverständnis geschieht, wie es das Gesetz eigentlich vorsieht.

Aktuelle Tendenzen zu weniger Einvernehmlichkeit verstärken sich durch die Heimarbeit. Betriebsrätinnen, Gewerkschafter und Vertrauenspersonen in Unternehmen organisieren sich dieser Tage vielerorts noch intensiver als zu "normalen" Zeiten. Sie halten ihre Versammlungen über Videokonferenzen ab, vernetzen sich über diverse digitale Tools. Doch eine wichtige Ebene für betriebliche Organisation und internen Interessensausgleich fällt weg: Die vielen informellen Gespräche unter Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Nebenbei in der Kaffeeküche, beiläufig am Gang, ausführlicher beim gemeinsamen Mittagessen. Ist der fehlende persönliche (Informations-)Austausch eine Gefahr für den Interessensausgleich der Arbeitnehmerseite?

Die Vereinzelung der Beschäftigten sei im Hinblick auf betriebliche Angelegenheiten aktuell ein Problem, sagt ein Betriebsrat eines großen Kommunikationsunternehmens zur "Wiener Zeitung". Denn wo Vereinzelung schon zuvor die Unternehmenskultur bestimmt habe, verstärke sich diese Praxis mit dem Homeoffice naturgemäß. Konkret: Pflegten Führungskräfte, vor allem Einzelgespräche mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu suchen und das Kollektiv so weit wie möglich zu umgehen - etwa um internen Widerstand bei unpopulären Entscheidungen zu minimieren -, erleichtert die Heimarbeit diese Vorgehensweise nun zusätzlich. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, müssten Beschäftigte dieser Tage verstärkt von sich aus aktiv werden, meint der Betriebsrat.

Es braucht Vertrauen in Betriebsrat

Die stellvertretende Beriebsratsvorsitzende einer großen Bank sieht in ihrem Unternehmen dagegen keine stark gestiegenen Risiken arbeitsrechtlicher Natur durch die Heimarbeit. Der informelle Austausch zwischen Beschäftigten sei zwar reduziert, "fällt bei uns aber nicht komplett weg", berichtet sie der "Wiener Zeitung". Mitarbeiter würden sich seit der Corona-Krise auch abseits der regulären Arbeitskonferenzen ganz bewusst zu Team-Telefonaten und Video-Calls etwa via Skype zusammenrufen, "durchaus auf der Ebene: Wie war das Wochenende, was gibt es Neues und welche Gerüchte gehen gerade im Unternehmen um?". Der Betriebsrat hat in der Bank eine traditionell starke Stellung und Homeoffice-Regelungen für einzelne Arbeitstage gab es schon vor Corona. Die jeweilige Unternehmenskultur hält die Betriebsrätin in der aktuellen Phase aber für entscheidend: "Haben Mitarbeiter Vertrauen in den Betriebsrat, dann werden sie ihn auch eher anrufen, wenn Führungskräfte etwas verlangen, was vielleicht nicht ganz dem Buchstaben des Gesetzes entspricht."

Digitales Sozialleben unter Arbeitnehmern wichtig

Für Michael Gogola, Jurist in der Gewerkschaft GPA-djp, zu dessen Arbeitsschwerpunkten das Thema Homeoffice gehört, müsse der Vereinzelung im Homeoffice vor allem organisationskulturell entgegengewirkt werden. "Das ist etwas, was man schwer per Gesetz verordnen kann", sagt er. Solle das Homeoffice sowohl für Arbeitgeber als auch -nehmer gut funktionieren, müssten "sicher beide Seiten hart arbeiten, um so etwas wie eine digitale Normalität herzustellen", die auch ein Sozialleben zwischen Mitarbeitern beinhalte.

In Krisenzeiten verschiebt sich der organisierte Interessensausgleich zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite tendenziell zugunsten ersterer. Immer mehr Unternehmen kämpfen seit der Corona-Pandemie buchstäblich ums Überleben. Das fordert naturgemäß auch Tribut von Mitarbeitern - beide Seiten sitzen im selben Boot. Allerdings: Wo gerade in der Anfangsphase von Krisen der nötige Zusammenhalt adressiert wird und vielerorts wechselseitige Solidarität zu spüren ist, gerät mit fortlaufender Dauer zunehmend die "Kostenwahrheit" in den Fokus.

Aus dem Zusammenhalt wird da schnell ein Konkurrenzverhältnis, ein Verteilungskampf um knapper werdende Ressourcen - zwischen Arbeitgebern und -nehmern wie auch zwischen Beschäftigten selbst. Am gefährdetsten sind im freien Spiel der Kräfte jene in den schwächsten Positionen: die einfachen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. "Es gibt schon länger eine gewisse Tendenz, dass Arbeitgeber versuchen, das wirtschaftliche Risiko auf die Beschäftigten zu verlagern", sagt Gewerkschafter Gogola. "Ich denke, dass sich dieser Trend mit Covid fortsetzen wird."

Schon vor der Covid-19-Krise beklagten nicht nur Arbeitnehmer-Organisationen, sondern auch Sozialwissenschaftler - zum Beispiel rund um die Diskussionen zum 12-Stunden-Tag - eine Abnahme beim Interessensausgleich, eine "Aufkündigung der Astgemeinschaft", wie etwa der Wirtschaftssoziologe Bernhard Kittel von der Uni Wien das in einem Zeitungskommentar bezeichnete. Als Astgemeinschaft wurden ab den 1950er-Jahren die Beziehungen zwischen den organisierten Arbeitgebern und Arbeitnehmern beschrieben. Beide würden auf demselben Ast sitzen, so das Bild. Sägt einer daran, fallen beide herunter.

Mit den aktuell Hunderttausenden Arbeitslosen sitzen jene Unternehmen, die gut durch die Krise kommen, in diesem Verhältnis indessen gleichsam auf einem längeren Ast. Heerscharen an Arbeitssuchenden bedeuten: Die Nachfrage nach Jobs übersteigt das Angebot. In vielen Branchen können sich Betriebe ihre nächsten Angestellten aus einer großen Auswahl aussuchen. Ohne entsprechenden Ausgleich kann das mittelfristig zu schlechteren Arbeitsbedingungen und niedrigeren Löhnen führen. Mancher Arbeitnehmervertreter fürchtet deshalb, dass Covid-19 zum Motor für beschleunigte Entsolidarisierung werden könnte. Auf der gesellschaftlichen Makro- wie auf der betrieblichen Mikroebene.

Neuer Aufschwung für die Sozialpartnerschaft?

Um gemeinsam etwas verhandeln zu können, brauche es eine gewährleistete Grundversorgung, gibt die stellvertretende Betriebsratsvorsitzende der großen Bank zu bedenken. "Wenn ich keinen Job, finanzielle Existenzängste und die Sorge habe, ob ich meine Grundbedürfnisse decken kann, dann werde ich mir schwertun, mich überhaupt gemeinsam für ein Ziel einzusetzen." Die wichtigste Hoffnung liege daher darauf, dass die akute Krise nicht allzu lange dauere und die Arbeitslosigkeit bald wieder sinke.

Gleichzeitig hält die Betriebsrätin auch für denkbar, dass die Corona-Krise das Gemeinschaftsgefühl stärke. So hätten die Sozialpartner stark dazu beigetragen, dass ein Kurzarbeitsmodell, das viele Beschäftigte vor Kündigung bewahrt habe, schnell umgesetzt werde. Das habe die Bevölkerung für den Stellenwert des organisierten Interessensausgleichs sensibilisiert, sagt sie: "Covid-19 könnte also auch einen neuen Aufschwung für die Sozialpartnerschaft bedeuten."