Der spanische Designer, Maler und Kostümschöpfer Mariano Fortuny fand - gemeinsam mit seiner Geliebten Henriette Negrin - erst in der Serenissima zu seiner wahren Form und Begabung. Ein venezianisches Capriccio.
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Das also auch noch. Doña Cecilia de Madrazo ist beunruhigt. Über ein Jahrtausend lang hatte der Campanile di San Marco den Zeiten getrotzt. El parón de casa (sic!, venez. Dialekt), wie ihn die Venezianer nennen, der Hausherr. Der Glockenturm der Markuskirche ist mit seinen knapp hundert Metern das höchste Gebäude der Stadt, seit jeher Orientierungspunkt in der Lagune und Wahrzeichen: auf unzähligen Bildern von Carpaccio, Guardi oder Canaletto zu sehen und auf den verwackelten Schwarzweiß-Fotos der Touristen. Und nun das: Am 14. Juli 1902, gegen 9.45 Uhr, stürzt der von Erdbeben und Blitzen gebeutelte Campanile, den man mit der Installation eines Lifts beleidigen will, zusammen. Zurück bleiben Staubwolken und ein mächtiger Steinhaufen - und eine schutzlos wirkende Basilika.
Doña Cecilia eilt zur Piazza, um die Ruine zu bestaunen. In den Schrecken mischt sich Angst: Und wenn nun dieser Vorfall mehr ist als ein Unglück, mit dem der eine oder andere Statiker ohnehin schon gerechnet hat? Wenn dieses Drama, bei dem - Gott sei Dank - niemand zu Schaden gekommen ist, für ihren Sohn ein schlechtes Omen bedeutet? Für Mariano Fortuny wird dieser 14. Juli 1902 zum Wendepunkt seines Lebens: An jenem Tag bringt er seine Geliebte, Henriette Negrin, nach Venedig, um mit ihr unter einem Dach zu wohnen, gegen den Willen seiner Mutter. Er ist glücklich. Während sich Doña Cecilia in die Idee hineinsteigert, dass der zerstörte Turm ein Symbol sein würde für eine Familie, die fortan in ihren Grundfesten erschüttert sein wird.
Quellen der Inspiration
Cecilia de Madrazo ist Kummer gewöhnt. Ihre Ehe endete zu früh, als ihr Mann, selbst Künstler, in Rom an Malaria starb. Sie übersiedelte mit ihren beiden Kindern nach Paris. 1889 zieht sie nach Venedig weiter: Dort hofft sie, dass ihr zu diesem Zeitpunkt 18-jähriger Sohn Mariano das Klima in der Serenissima besser vertragen würde als die Land- und Stadtluft. Er reagiert al-lergisch auf Pferde und leidet unter Asthma und Heuschnupfen. In Venedig, wo es keinerlei Fuhrwerke und nur wenige Gärten gibt, würde sich seine Gesundheit stabilisieren, so der Wunsch der besorgten Mutter. Sie mietet sich am Canal Grande im Palazzo Martinengo ein, wo sie Gäste empfängt und ihre Kollektion wertvoller, zum Teil sehr alter Stoffe präsentiert: Samt, Brokat, Seide und Taft, in floralen und auch geometrischen Mustern, mit Gold- und Silberfäden verwirkt. Kostbarkeiten aus den mittelalterlichen Manufakturen in Gent oder Venedig, aus Japan und China. Dazu Waffen, Teppiche und Keramik, die Cecilias Vater und Großvater auf ihren Studienreisen erworben haben.
Fruchtbare Quellen der Inspiration für den jungen Mariano. Er entwickelt sich zum Homo Universalis, mit Begabungen als Maler, Modeschöpfer und Innenarchitekt, als Ingenieur und Erfinder. Ein überaus raumgreifender Mann. Entsprechend schnell reagiert er auf die Nachricht, dass der Palazzo Pesaro degli Orfei im Sestiere di San Marco zum Verkauf steht. Dereinst im Besitz einer Dogenfamilie, war der riesige gotische Palast am Campo San Beneto ziemlich heruntergekommen: Teile des ehemaligen Prachtbaus wurden als Theater und später als Konzertsaal benutzt. Inzwischen haben Handwerker die Räumlichkeiten vollends heruntergewirtschaftet.
Fortuny lässt sich davon nicht abschrecken, im Gegenteil: Nach und nach erwirbt er die gesamte Immobilie und richtet dort seine Ateliers ein, mit Weberei und Färberei, mit Plätzen für Staffeleien und Schreibtische. Während er des Abends weiterhin mit der Mutter am Tisch des Palazzo Martinengo sitzt und seine Tage im Familienkreis beschließt.
Labor für Einfälle
Venedig entzündet seine Fantasie, hier entsteht das Labor seiner Ideen und Einfälle. Für einen wie ihn, der Oper und Drama liebt, wird die Serenissima zur ihn beseelenden Kulisse: der Nebel über den Kanälen, die sich im Wasser spiegelnden Gemäuer, die gespenstische Stimmung, wenn die Wellen an den Mauern brechen und der Regen wie ein Schleier vor den Häusern hängt. Die irisierend-gleißende Helligkeit der Sonnenstrahlen, die Dämmerung, die das Gold der Paläste zum Glühen bringt.
Angeregt durch die Leuchtkraft Venedigs und beflügelt von seiner Passion für Richard Wagner konstruiert Fortuny ein Lichtsystem für die Oper, das er zum Patent anmeldet - eines von fünfzig weiteren. Darunter der sogenannte Dom: ein kuppelförmig gewölbtes Zyklorama, das bei entsprechender Beleuchtung die Illusion eines Himmels oder eines ins Unendliche gehenden Raums erzeugt.
Während er in seinem Palazzo über der Realisierung seiner Eingebungen brütet, führen ihn Spaziergänge in die Accademia, in die Scuola San Rocco oder in die Kirchen von San Sebastiano oder Madonna dell’Orto. Bei Carpaccio, Veronese oder Tintoretto studiert er den Faltenwurf der Gewänder, die Muster der Capes und Mäntel der Kleriker, die Roben der Adeligen und Kurtisanen.
Er freundet sich mit Gabriele D’Annunzio und Eleonora Duse an, arbeitet als Bühnen- und Kostümbildner und ist als Maler geschätzt, als er 1897 auf Henriette Negrin trifft. Die beiden verbindet die Liebe zu Stoffen, Farben und die Tradition alter Handwerkstechniken. Cecilia de Madrazo beobachtete die Beziehung mit Argusaugen: Henriette ist keine Idealbesetzung für die Rolle als Schwiegertochter, wie sie befindet. Eine elegante Pariserin, sehr hübsch, aber geschieden. Das passt als Makel nicht ins mütterliche Beuteschema. Doch sie muss den Sohn freigeben. Im Juli 1902 packt er seine Koffer und wohnt fortan mit Henriette Negrin im Palazzo Pesaro degli Orfei, bescheiden und ohne Dienstboten. Und über zwanzig Jahre ohne Trauschein.
Während Mariano Fortuny und Henriette Negrin an den Grundfesten ihres gemeinsamen Lebens bauen, wird der Campanile der Basilica di San Marco neu errichtet, ganz im alten Stil. Wie kann sich ein zeitgenössischer Künstler in einem Ambiente entfalten, das die Gegenwart ignoriert und beharrlich in der gloriosen Vergangenheit ankert?
Fortuny versucht eine Gratwanderung zwischen Gestern und Heute und umkreist die Idee eines Gesamtkunstwerks für alle Sinne. Henriette Negrin hat sich schon früher mit alten Färbetechniken beschäftigt. Nun taucht sie mit Mariano ins Bedrucken von Seide, Samt und Baumwolle ein.
Die Begeisterung für die griechische Antike und die Gewänder, wie sie sich auf Vasen und bei Skulpturen bewundern lassen, mündet in das Design eines Schals, der bis heute als Klassiker der Fortuny-Linie gilt. Knossos, so sein Name, nimmt Motive der minoischen Kultur auf und variiert sie: Landschaften mit Blumen und Pflanzen, Muscheln und Oktopusse, mit einem kleinen Labyrinth und dem Namen Fortuny signiert. Der Erfolg dieses Schals beschleunigt die Kreation weiterer Modelle, die sich der Begegnung mit der kretischen Hochkultur verdanken. Das Model Delphos sorgt für Furore: ein lose fallendes, in ungezählte unregelmäßige Fältchen gelegtes Seidenkleid, dezent mit Gürteln aus bunten Murano-Perlen versehen. Die Methode der Plissierung, von Henriette erfunden und unter dem Namen ihres Ehemanns 1909 zum Patent angemeldet, bleibt ein streng gehütetes Geheimnis.
Marcel Prousts Liebling
Fortuny wird zum Liebling international gefeierter Schauspielerinnen und selbstbewusster Frauen mit Geld. Es wird auf Ausstellungen gezeigt, gemalt und fotografiert und findet mit Marcel Proust Eingang in die Weltliteratur. Dieser ist 1900 nach Venedig gereist. Mit im Gepäck hat er die "Stones of Venice" von John Ruskin, auf den er gerade erst einen Nachruf verfasst hat, und dieAdresse von Cecilia de Madrazo.
In ihrem Palazzo begegnet er Mariano Fortuny und spürt, wie sehr dessen Schaffenskraft in der Geschichte der Serenissima wurzelt. Zugleich erkennt er die revolutionäre Bedeutung der von Mariano und Henriette ersonnenen Kleider. Sie sind ein Statement weiblicher Individualität, jenseits der Mode: keine Korsetts, keine Häkchen und Knöpfchen, keine Gürtel und Mieder, die den Körper einschnüren. Stattdessen fließende Roben mit Bewegungsfreiheit. Ein politisches Statement, abgeschwächt nur durch die Direktiven in Sachen Ästhetik: Man trage diese Kleider ganz ohne Unterwäsche, so die Empfehlung für einen theatralischen Auftritt, damit die edlen Stoffe die Haut umschmeicheln, und vielleicht sogar barfuß: Das sei sicherer, wenn man nicht über die langen Säume stolpern möchte. Also nichts für die Straße, kein weithin sichtbares Zeichen des Aufbegehrens. Und damit eine Mode für die Salons und Boudoirs.
Dort treibt sich auch Marcel Proust herum. Fortuny wird der einzige Designer, den er in seiner "Suche nach der verlorenen Zeit" gleich mehrfach auftreten lässt. "Das Kleid von Fortuny, das Albertine an diesem Abend angelegt hatte, kam mir wie ein lockender Schatten jenes unsichtbaren Venedig vor", liest man in der "Gefangenen", dem fünften Teil des monumentalen Romanwerks: "Morgenländische Ornamente überzogen es überall - wie Venedig, wie jene gleich Sultaninnen hinter durchbrochenen Steinvorhängen verborgenen Paläste, wie die Einbände der Ambrosianischen Bibliothek, wie die Säulen mit den orientalischen Vögeln, die abwechselnd Tod und Leben symbolisieren und hier unzählige Male auf dem schillernden Gewebe von tiefem Blau wiederkehrten, das unter meinem vorwärtstastenden Blick sich in schmiegsames Gold verwandelte durch eine ähnliche Metamorphose, wie sie vor der vorwärtsgleitenden Gondel flammendes Metall aus der Azurtönung des Canal Grande macht."
Auch Henriette Negrin gehört zu jener Generation selbstbestimmter Frauen, die sich nicht länger ins Korsett schnüren lassen. Sie ist Fortunys Muse und Vertraute, aber auch seine Kritikerin. Er hat sie endlos oft fotografiert und gemalt, nackt und in den von ihnen entworfenen Kleidern, oder in sich versunken im Atelier: in einem groben Overall, inmitten von Pinseln und Tiegeln beim Mischen ihrer Farben. Ein zartes Gesicht, von einem dichten Haarkranz umrahmt, feine Hände, die zupacken können. Henriette, nach 1924 mit Fortuny verheiratet, ist eine Partnerin auf Augenhöhe, die Erfolge und Alltag mit ihm teilt. Doch sie verschwindet ein Stück weit im Schatten ihres Mannes.
Auf der Höhe ihres Ruhms beschließen die Fortunys, die Produktion auf die Giudecca zu übersiedeln. Wer auf sich hält und der Bohème nahesteht, richtet seine Häuser mit Möbeln, Teppichen, Wandbespannungen und Lampen Made in Venice ein. Eleonora Duse, Sarah Bernardt, Peggy Guggenheim und Isadora Duncan lieben Fortunys Kleider. Doch nicht jede darf sie tragen. Als Rita Hayworth den Designer bittet, eine Robe für sie zu schneidern, lehnt er ab: Die Filmdiva passt nicht in seine Vorstellung jener subtilen Erotik, die er verfolgt. Er kann inzwischen diktieren, wen er exklusiv ausstattet - und wer keinen Zutritt hat zum Kreis seiner Kundinnen.
Andenken im Palazzo
Als Fortuny 1949 stirbt, geht sein Erbe auf Henriette über. Sie übergibt das Management an ihre langjährige, in den USA tätige Geschäftspartnerin Elsie McNeill und sitzt fortan alleine in ihrem Palazzo. Von dort aus beobachtet sie mit Genugtuung und zugleich Unmut, wie Givenchy oder Oscar de la Renta von den Textilien und Schnitten aus dem Hause Fortuny inspiriert werden und Ideen stehlen.
Die Delphos-Robe hängt heute in Museen. Wer ein Modell ergattert, muss es auf Schleichwegen oder dank stolzer Geldsummen erwerben. Lauren Bacall hat das Kleid 1978 bei der Oscar-Verleihung getragen, Susan Sontag wünschte sich, darin beerdigt zu werden. Fortuny habe sich zu sehr an Idealen aus der Vergangenheit orientiert, sagen seine Kritiker, seine eigene schöpferische Leistung sei nicht wirklich originär. Ein Missverständnis.
Niemals habe er eine Neuauflage antiker Vorlagen im Sinn gehabt, rechtfertigte sich der Künstler mehrfach, darauf angesprochen. Im Gegenteil: Sein Ziel sei es, traditionelle Muster und Formen zeitgemäß zu interpretieren. Bloße Nachahmungen seien kalt wie Standbilder aus Marmor, so auch das Credo von Marcel Proust, und davon seien diese Meisterwerke weit entfernt. "So zauberten die Roben von For-tuny", schwärmt er in "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", "getreu den alten nachgeahmt und doch überaus eigenwillig, wie eine solche Dekoration, aber sogar noch mit größerer Beschwörungskraft, da eine Dekoration noch mehr Phantasie voraussetzt, jenes ganze vom Orient überflutete Venedig hervor, in dem sie getragen wurden und dessen Sonne mitsamt den beturbanten Gestalten ringsum und der vielfältig gebrochenen, geheimnisvollen unauflöslich zu dieser Stadt gehörigen Farbe sie besser als eine Re-liquie im Schrein von San Marco hinaufbeschworen."
Der Palazzo, den Henriette Negrin der Kommune überantwortet hat, bewahrt Fortunys Andenken. Er öffnet sich wechselnden Ausstellungen, wie etwa derzeit den Meisterwerken aus der Sammlung Giuseppe Merlini, die noch bis 23. Juli 2018 zu sehen sind. Sie umspannt die italienische Kunst des 20. Jahrhunderts, mit Bildern von Modigliani, de Chirico, Morandi oder Fontana.
Die Fabrik auf der Giudecca produziert die berühmten Stoffe weiterhin nach Originalentwürfen. Allein das Delphos-Kleid darf nicht länger hergestellt werden, so hat es Henriette verfügt. Sie hat das Wissen um die spezielle Technik des Plissierens mit ins Grab genommen. Auch eine Form, sich unsterblich zu machen.
Hinweise:
Bis 23. Juli 2018 findet im Palazzo Fortuny die Sonderausstellung "Una collezione Italiana - Opere dalla collezione Merlini" statt: http://fortuny.visitmuve.it/en/home/
Showroom auf der Giudecca:
http://fortuny.com/venice/