Russlands Regierung macht Propaganda für die traditionelle, heile Familie.
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Moskau. Vater, Mutter und ihre zwei kleinen Kinder halten sich an den Händen und lächeln einander glücklich an. Sie sitzen in einem Meer aus Blumen, über ihnen leuchtet der Himmel in strahlendem Blau. Vögel schweben über ihren Köpfen und halten ein Band in ihren Schnäbeln, auf dem geschrieben steht: "Wir wünschen einen frohen ,Tag der Familie, Liebe und Treue!‘ Schätzt das Glück, denn es wird in der Familie geboren." Auch wenn der russisch-orthodoxe Feiertag bereits am 8. Juli gefeiert wurde, kann man einige solcher Plakate noch immer in Moskau sehen. Seit fünf Jahren ist der "Tag der Familie, Liebe und Treue" ein offizieller Feiertag und nur eines der vielen Zeichen für den Stellenwert der traditionellen Familie in der russischen Gesellschaft. "Die Liebe zur Heimat beginnt in der Familie" steht auf anderen Plakaten.
Die Familie gilt in Russland als Kern einer stabilen Gesellschaft. Diese Stabilität soll durch nichts gefährdet werden - etwa durch Menschen, die eine Meinung vertreten, die nicht dem Idealbild auf den Plakaten entspricht.
"Stimmung wird aufgeheizt"
Das Gesetz gegen "Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen", das Russlands Präsident Wladimir Putin erst kürzlich unterzeichnete, verbietet genau Angriffe auf das traute traditionelle Familienbild - offiziell zum Schutz von Minderjährigen. So stellt es positive Äußerungen über Homosexualität in Anwesenheit von Minderjährigen oder über Medien wie das Internet unter Strafe. Wer zuwiderhandelt, muss Geldbußen zahlen. Organisationen, die gegen die Regelung verstoßen, können gar bis zu 90 Tage lang geschlossen werden.
Dieses Gesetz scheint dem Willen der Bevölkerung zu entsprechen: So sprachen sich bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Levada 76 Prozent für das Gesetz aus.
Laut der Leiterin der Studie, Maria Plotko, ist dieses Ergebnis aber das Resultat staatlicher Propaganda: "Die Vergleichsdaten der Umfragen zeigen, dass die Menschen das Thema früher nicht interessiert hat, und es wäre auch heute nicht anders. Die Stimmung wird jedoch künstlich aufgeheizt, es werden Emotionen hervorgerufen, die sonst nicht da wären."
Die Regierung wolle damit den Anschein erwecken, als würde sie sich um die Moral im Land kümmern. Doch dahinter steckt laut Plotko ein ganz anderes Ziel: Der Kreml wolle die latente Unzufriedenheit der Bürger umlenken und schaffe so einen Schuldigen für die Probleme im Staat: "Das ist die ewige Suche nach dem Feind, ob das nun die Gay-Lobby, die Juden oder ausländische Agenturen sind. Es ist völlig egal, es geht einfach um eine Minderheit, die für alles verantwortlich gemacht wird. Die Homosexuellen sind jetzt die, die den moralischen Frieden gefährden."
Auch Wladimir Woloschin, Chefredakteur der Schwulen-Zeitschrift "Kvir", sieht in der Propaganda der Regierung ein Ablenkungsmanöver: "Der Kreml hat Angst davor, dass das Land auf einen Abgrund zusteuert. Dass die sogenannte Stabilität nicht mehr genug mit Gas und Öl gefüttert wird."
Die Korruption und Unverantwortlichkeit auf allen Ebenen der Verwaltung des Landes hätten schon längst jeglichen Rahmen gesprengt, deswegen versuche die Staatsführung jetzt die "Homosexuellen-Karte" auszuspielen und daraus Kapital zu schlagen: "Homophobie gibt es in allen Ländern. Aber sie äußert sich nicht so offen, wenn die Regierung eine Politik der Toleranz gegenüber Minderheiten vorantreibt. In Russland ist es genau umgekehrt."
Angst vor dem Unbekannten
Die Soziologin Plotko nennt noch einen weiteren Grund für die Homophobie in ihrem Heimatland: "Homosexualität ist etwas Unbekanntes und Unverständliches. In Russland wurde niemals offen darüber gesprochen. Sie wurde zu Zeiten der Sowjetunion sogar strafrechtlich verfolgt. Das Gesetz gibt es zwar nicht mehr, aber das Thema ist deswegen nicht weniger tabuisiert."
Erst 1993 wurden homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen legalisiert, seit 1999 steht Homosexualität nicht mehr auf der Liste der Geisteskrankheiten.
Etwa ein Drittel aller Russen denkt jedoch immer noch, Homosexualität sei eine Krankheit, für 23 Prozent ist es eine schlechte Gewohnheit. "Sie wird mit einer Krankheit verbunden, weil die Menschen Angst vor der Homosexualität haben", meint Plotko. Es gelte daher die Meinung: Ein normaler Mensch könne so nicht sein.
Das hänge auch mit einer Tradition des Kollektivismus zusammen: "Man könnte meinen, dass es eine individuelle Wahl ist, mit wem ein Mensch zusammen ist, aber in Russland ist das nicht so. Die Menschen sind nicht an individuelle Freiheiten gewöhnt", analysiert Plotko.
Wissen
Schwule und Lesben haben nicht nur in Russland mit massiven Problemen zu kämpfen, sondern auch in vielen anderen Ländern Ost- und Südosteuropas. Homosexualität steht dort zwar seit Anfang der 90er Jahre nicht mehr unter Strafe, an der alltäglichen Diskriminierung ändert das allerdings wenig. Im kleinen Adriastaat Montenegro etwa halten 60 Prozent der Bürger Homosexualität noch immer für eine Krankheit. In der Ukraine wurden vor kurzem zwei Gesetzesentwürfe zum Verbot von "Homosexuellen-Propaganda" in die Wege geleitet - laut den Initiatoren sollen damit Kinder geschützt werden. Im Jahr 2012 hatten in der Hauptstadt Kiew hunderte Ultra-Orthodoxe und Nationalisten mit Gewalt gegen eine Homosexuellen-Parade protestiert. Auch in Serbien wurden ähnliche Veranstaltungen im vergangenen Jahr mehrfach verboten. Hier macht vor allem auch die serbisch-orthodoxe Kirche massiv Stimmung gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen. Auch in Polen, Bulgarien und Litauen verurteilt die Mehrheit der Bevölkerung Homosexualität.