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Hongkongs langer Marsch

Von WZ-Korrespondent Wu Gang

Politik

Der jährliche Gedenkmarsch am 1. Juli wurde zu einer farbenfrohen Rekordkundgebung für mehr Demokratie - kleinere Reibereien mit inbegriffen.


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Hongkong. Nichts hat sie aufhalten können. Weder die Drohungen aus Peking noch die Warnungen renommierter Unternehmen vor "Instabilität und Chaos", auch nicht die feucht-schwüle Hitze und die anschließenden Regengüsse. Stattdessen verwandelten die
Demonstranten des "1.-Juli-Marsches" Hongkong in ein farbenfrohes Meer aus Schirmen und Regenmänteln.

Es ist schwer zu sagen, ob wirklich eine halbe Million Menschen für mehr Demokratie auf die Straße gingen, wie von den Organisatoren proklamiert. Doch der bunte Strom, der sich stockend durch die Häuserschluchten der 7-Millionen-Metropole zwängte, schien nicht abzureißen. Immer wieder wurden Menschen ohnmächtig und mussten aus der Menge gezerrt werden, häufig kam es auch zu kleineren Reibereien mit den über 4000 Polizisten, doch all das vermochte den Enthusiasmus der Demonstranten nicht zu dämpfen.

Angestachelt wurde die Rekordbeteiligung am jährlichen Gedenkmarsch anlässlich der Rückgabe der früheren britischen Kronkolonie an die Volksrepublik am 1. Juli 1997 durch die jüngsten Entwicklungen: Zum einen stellte Peking mit einem "Weißpapier" den bisherigen Sonderstatus und die Freiheiten Hongkongs indirekt in Frage, zum anderen forderte ein inoffizielles Referendum eine demokratische Wahl des Regierungschefs für 2017, was von der Zentralregierung abgelehnt wird. Die Initiatoren der Protestbewegung "Occupy Central" haben zwar mittlerweile angekündigt, mit der Besetzung des Regierungs- und Bankenviertels vorläufig noch warten zu wollen, doch auch so ließen die Signale der Demonstranten nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig. Zwei Protestteilnehmer trugen beispielsweise einen Sarg und skandierten: "Peking hat die Idee von ‚Ein Land, zwei Systeme‘ mit dem Weißpapier zu Grabe getragen!" Kopien jener Denkschrift wurden auch öffentlich verbrannt, zusammen mit Fotos des pekingtreuen Verwaltungschefs Leung Chun-ying.

Taiwan hat ähnliche Sorgen

Chun-ying rief die Demonstranten im Rahmen einer Gedenkrede zur Mäßigung auf und warnte sie davor, "den Reichtum und die Stabilität Hongkongs" zu gefährden: "Wir haben momentan ein moderates Wirtschaftswachstum, die Preise und Mieten sind stabil und die Beschäftigung unter Kontrolle." Das schien die Mehrheit der Demonstranten anders zu sehen. Ihr Zorn ist auch deswegen so groß, da die Immobilienpreise ins Unermessliche gestiegen sind, die Industrie über die Grenze abgewandert ist und reiche Festlandchinesen die Stadt überschwemmen, während die Mittelschicht zu verarmen droht. Vielen macht auch der wachsende Einfluss Pekings Sorgen, das seine Interessen zunehmend robuster durchsetzt und seine Agenten gezielt auf Wirtschaftsführer, Journalisten und selbst Priester ansetzt. Besonders genau wird die Situation daher in Taiwan beobachtet, wonach die Volksrepublik zuletzt verstärkt ihre Fühler ausgestreckt hatte. Etliche Demonstranten kamen extra von dort angereist, einer sagte etwa: "Wir müssen den Freunden in Hongkong einfach helfen, weil uns sonst dasselbe Schicksal droht." Und ein anderer, schon etwas älterer Protestteilnehmer ergänzte düster: "Wenn wir jetzt nicht für unsere Rechte auf die Straße gehen, werden wir es vielleicht in Zukunft nicht mehr tun können."