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Jeder hat von der Szene bei Marcel Proust gehört, in der der Genuss eines Teekekses die Kindheit des Helden wieder auferstehen lässt. Am Dienstagmorgen hatte ich ein solches Erinnerungserlebnis,
selbstredend etwas weniger ausladend: Im "Pasticcio" erklangen ein paar Takte der Titelmelodie der TV-Serie "Onedin-Linie" von Aram Khatchaturian. An diesem strahlend-sonnigen Wintermorgen im Gebirge
· der Schnee glitzerte vor dem Küchenfenster, die Amseln machten sich am Vogelhaus ungebührlich breit · hatte ich plötzlich eine Szene am Meer vor Augen: Das Schlitzohr James Onedin führte seine ihn
treu liebende Gattin Anne am Arm. Danach kamen, mit einer Melone auf dem Kopf, Bruder Robert und seine stumpfsinnige Gattin Sarah Onedin. Es folgten der getreue Kapitän Baines und die ewig
unzufriedene, holde Elizabeth. Mr. Fogarty und Mr. Frazer bildeten den Abschluss dieser Prozession zur "Charlotte Rhodes", auf der man sich zu einem Ausflug einfand. Bald spritzte links und rechts
die Gischt hoch. Die Matrosen trugen ihr Ölzeug und kämpften tapfer wie eh und je gegen den Sturm . . .
So gedankenverloren war ich, dass ich mir nicht einmal gemerkt habe, wie zutage gebracht wurde, dass diese Melodie von Khatchaturian das einzige Stück E-Musik sei, das eine qualifizierte Mehrheit von
TV-Konsumenten kennt. Der Moderator spöttelte, dass Stalin recht gehabt haben könnte damit, dass die Massen nur Dur hören könnten. Ich halte dagegen, die Massen erinnern sich mit der Onedin-Linie an
ein kaum wieder erreichtes TV-Gesamtkunstwerk.