Phänomen scheint weiter verbreitet zu sein als angenommen. | Ein uraltes Erbe der Evolution? | Berlin. "I want to hear the scream of the butterfly", sang Jim Morrison in den 60er Jahren. Bisher ist es noch niemandem gelungen, die Schreie von Schmetterlingen wahrzunehmen. Doch was wäre, wenn man immer dann Geräusche hören würde, wenn man sieht, wie sich ein Schmetterling im Schwebeflug vorwärts bewegt, oder wie ein Käfer einen Sandhügel hinaufkrabbelt, oder wie ein Kastanienblatt durch die Luft segelt? Tatsächlich gibt es Menschen, die mit der Fähigkeit auf die Welt gekommen sind, alles, was sich direkt vor ihren Augen bewegt, gleichzeitig zu hören.
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Auf dieses merkwürdige Phänomen, bei dem es sich um eine bisher unbekannte Form der Synästhesie handelt, sind kürzlich Melissa Saenz und Christof Koch, Neurowissenschafter vom Caltech Institute of Technology in Pasadena (USA) , gestoßen. Sie berichteten über ihre Entdeckung im Fachjournal "Current Biology" (Band 18).
Alles begann mit einem puren Zufall. Melissa Saenz war gerade dabei, ein Experiment durchzuführen. Zu diesem Experiment gehörte eine Computeranimation, bei der Punkte auf dem Bildschirm hin- und herflitzten. Als ein Student, der gerade vorbeigekommen war, das Tanzen der Punkte beobachtete, fragte er plötzlich: "Hört ihr auch was, wenn ihr auf den Monitor blickt?" Das machte Saenz stutzig. Die Animation war nämlich völlig stumm, und außerdem waren die Lautsprecher abgeschaltet. Bald darauf stellte sich heraus, dass es dieser Student als die selbstverständlichste Sache der Welt empfindet, dass er bewegliche Objekte immer nur in Begleitung von Geräuschen oder Klängen wahrnimmt. Daraufhin beschlossen Saenz und Koch, sich auf die Suche nach weiteren Synästhetikern solcher Art zu machen, und wurden fündig.
Von mehreren Hundert Versuchspersonen, die mit springenden Punkten und Lichtblitzen auf dem Bildschirm konfrontiert wurden, gaben drei an, kratzende, polternde, schwirrende oder blubbernde Geräusche hören zu können.
Synästhetiker gegen Nicht-Synästhetiker
Zum Abschluss ihrer Untersuchung ließen Saenz und Koch Synästhetiker und Nicht-Synästhetiker gegeneinander antreten. Den beiden Gruppen wurden Hundert Paare von Morsezeichen ähnelnden Klang- und Bildmustern präsentiert. Die Probanden hatten die Aufgabe, jeweils zu entscheiden, ob sie es mit identischen oder voneinander verschiedenen Mustern zu tun hatten.
Das eindeutige Ergebnis: Beim Erkennen der Tonfolgen erreichten beide Gruppen eine Trefferquote von 85 Prozent. Doch bei der Identifikation der grafischen Muster erwiesen sich die Synästhetiker als weit überlegen. Während sie wiederum eine Trefferquote von 85 Prozent erzielten, brachten es die Nicht-Syn-ästhetiker bloß auf eine Zufallsquote von kläglichen 55 Prozent.
Saenz und Koch glauben, dass die Zahl derjenigen, die über dieses besondere synästhetische Talent verfügen, überraschend hoch sein dürfte - doch die meisten würden davon nichts wissen oder versuchen, es vor anderen und vor sich selbst zu verbergen. Das ist eine waghalsige Annahme. Es könnte allerdings sein, dass es sich bei dieser Fähigkeit um ein uraltes Erbe der Evolution handelt, das sich bis heute erhalten hat, weil es für den Überlebenskampf nützlich ist - beispielsweise wenn es darum geht, giftige Spinnen, Skorpione oder Schlangen rechtzeitig zu bemerken. Im übrigen kann man selbst leicht feststellen, ob man Hör-Seher ist: Es genügt, sich einen Film bei abgedrehtem Ton anzusehen.
Doch können diese Syn-ästhetiker tatsächlich Geräusche und Klänge hören, für die gewöhnliche Sterbliche taub sind, oder bilden sie sich das nur ein? "Das hängt davon ab, was man unter ,Geräusch' oder ,Klang' versteht," erklärt Saenz. "Meint man damit Wahrnehmungserlebnisse im Geist, dann existieren sie ohne jeden Zweifel. Doch wenn damit gemeint ist, dass es zu einer realen Übertragung von Schallwellen in der Luft kommt, dann sind die wahrgenommenen Geräusche und Klänge irreal."
Es gibt Menschen, die jedes Mal, wenn sie bestimmte Töne hören, sofort bestimmte Farben sehen. Es gibt auch Menschen, die Farben wahrnehmen, sobald sie schwarze Zahlen oder Buchstaben erblicken. Das funktioniert allerdings nicht bei römischen Zahlen, und es kommt so gut wie nie vor, dass Farben die Wahrnehmung von Zahlen hervorrufen. Es gibt auch Menschen, die auf Klänge mit Geschmacks- oder auf die Namen der Wochentage und Monate mit Farbempfindungen reagieren.
Kreuzweise verdrahtete Gehirnareale
Die Synästhesie war lange ein rätselhaftes Phänomen - bis sich der große Neurologe Vilayanur Ramachandran damit beschäftigte. Zunächst fand er heraus, wie sie überhaupt zu Stande kommt: nämlich dadurch, dass bestimmte Gehirnareale, die direkt nebeneinander liegen, sonst aber völlig voneinander abgeschottet sind, kreuzweise miteinander verdrahtet sind, so dass eine Vermischung verschiedenartiger Nervensignale entsteht. Ramachandran hat auch festgestellt. dass es überraschend viele Synästhetiker gibt - auf 200 Menschen kommt einer - und dass ihr prozentualer Anteil nirgendwo so hoch liegt wie bei Künstlern.
Kürzlich hat Ramachandran experimentell nachgewiesen, dass alle Menschen mehr oder weniger synästhetisch begabt sind. Die Probanden wurden mit einem welligen, amöbenartigen und einem gezackten, an eine Glasscherbe erinnernden Gebilde konfrontiert. Sie sollten sich vorstellen, es handle sich dabei um die beiden ersten Buchstaben des Mars-Alphabets, und entscheiden, welche Figur "Booba" und welche "Kiki" heißen könnte. Das Ergebnis war eindeutig. Zwischen 95 und 98 Prozent der Befragten erklärten, dass sie die gezackte Form "Kiki" und die wellige "Booba" nennen würden.
Noch etwas spricht laut Ramachandran dafür, dass Synästhesie nicht das Privileg einer winzigen Minderheit sein kann: Die Metaphern der Alltagssprache sind alles andere als willkürlich. Man spricht von "schreienden" Farben, aber nicht von "bitteren" oder "salzigen". Man kann sagen, dass etwas "scharf" schmeckt oder dass ein Ton "rau" klingt, aber nicht, eine Oberfläche fühle sich "sauer" oder "rötlich" an.
Schlüsselrolle beim Entstehen der Sprache?
In alledem, vermutet Ramachandran, kommt zum Ausdruck, dass verschiedenartige Sinneseindrücke in der Regel nur dann metaphorisch miteinander verknüpft werden, wenn zwischen den für sie zuständigen Gehirnregionen von vornherein neuronale Verbindungen bestehen - was etwa für Geruchs- und Geschmackssinn gilt. Ramachandran glaubt, dass die Evolution den Menschen mit synästhetischen Talenten ausgerüstet hat, weil sie nützlich für den Daseinskampf sind - sie hätten ihm ermöglicht, sich komplexe Fähigkeiten anzueignen.
Für Ramachandran hat die Synästhesie vermutlich sogar eine Schlüsselrolle bei der Entstehung der Sprache gespielt. Nach seiner Theorie waren die frühen Hominiden dazu prädisponiert, jedem wahrgenommenen Objekt ein seiner Form entsprechendes Lautmuster zuzuordnen ("Booba"-"Kiki"-Effekt). Außerdem würde sich der Gebrauch der Hände direkt und indirekt darauf auswirken, wie Mund, Zunge und Lippen bewegt würden. Auch dieser Umstand könnte bestimmend dafür gewesen sein, welche Laute die Hominiden ganz am Anfang erzeugten, um sich miteinander zu verständigen.