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Hort der leeren Blicke

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik
© Matthias Leibbrand, CEO Vision Hope International

Über zwei Millionen Kinder sind vom Bürgerkrieg unmittelbar betroffen.


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Mafraq. Ihr Name ist Warda - die Rose - und so sieht sie auch aus. Sie trägt eine rote Bluse und eine lange Perlenkette, zwei schüchterne, braune Augen schauen die Besucherin an. Sprechen wolle sie nicht, nur spielen, sagt die Fünfjährige leise. "Ich komme aus Daraa in Syrien und mein Vater ist tot." Am Anfang habe sie nur geweint, erklärt Daniel das Verhalten des Mädchens, wollte nicht alleine im Kindergarten bleiben. Doch die Mutter habe intensiv mit ihr gearbeitet, fährt Kim fort. "Jetzt kommt sie auch alleine und fängt an, mit den anderen zu spielen."

Kim und Daniel Harrison aus Chicago haben vor drei Monaten ein bisher einzigartiges Projekt in Jordanien ins Leben gerufen. Im Auftrag der deutschen NGO Vision Hope, die bereits im Jemen und in Afghanistan tätig ist, haben die beiden einen Kindergarten für traumatisierte syrische Flüchtlingskinder aufgebaut. Bis zu 50 Kinder zwischen vier und fünf Jahren kommen nun täglich in das kleine Haus im Dorf Manshia, unweit der Stadt Mafraq, wo 360 syrische Familien Unterschlupf gefunden haben. Und jedes der Kinder hat eine eigene, schreckliche Geschichte.

Kindergarten - Kim kümmert sich um Traumaopfer.
© svensson

Wardas Vater war Mitglied der Freien Syrischen Armee. Eines Tages kam jemand ins Haus und berichtete erfreut, dass "ein Märtyrer" mehrere Panzer der Regierungstruppen hochgehen ließ und dabei selbst ums Leben kam. Wie sich schnell herausstellte, handelte es sich um Wardas Vater. "Wenn wir zu Hause sind, weinen wir", erzählt die Mutter.

Nun hofft sie, dass Warda im Kindergarten vielleicht ein bisschen vergessen kann. Doch so weit ist die Tochter noch nicht. Die kleine Rose ist noch sehr nach innen gekehrt. Auch andere Kinder sitzen stumm da und starren vor sich hin. Ausgelassenheit und Unbeschwertheit scheinen ihnen fremd. Sie habe mehr Aggression erwartet, gibt Kim zu - eine Art, ein Trauma zu verarbeiten. Stattdessen herrscht im Kindergarten eine ruhige, etwas gedrückte Atmosphäre.

Beredte Kinderzeichnungen

Die Maltherapeutin aus Freiburg versucht, den Kindern ein Ventil zu geben, damit sie ihre Erlebnisse artikulieren lernen. Sie malen Soldaten, Gewehre, Panzer und Flugzeuge, Menschen im Gefängnis. Kim und Daniel haben in der jordanischen Hauptstadt Amman eine Therapeutin gefunden, die den syrischen Kindergärtnerinnen in Manshia beibringt, wie man Trauma-Symptome erkennt und die Kinder dazu bringt, darüber zu sprechen, wie man den sogenannten Trigger herausfindet, das Schlüsselerlebnis, das zu der Krankheit führte.

Laut Unicef befinden sich derzeit mehr als 1,5 Millionen Syrer auf der Flucht in den Nachbarländern. Zwei Drittel davon sind Frauen und Kinder. Über zwei Millionen Kinder seien direkt vom Krieg betroffen, und es werden täglich mehr. Kim sagt, dass auch Mütter schon angefragt hätten, eine Therapie zu bekommen. Zunächst aber plant das Ehepaar, am Nachmittag sechs- und siebenjährige Kinder aufzunehmen, die von der regulären Schule nach Hause kommen und hier psychotherapeutisch betreut werden.

Wardas Kindergartenfreundin ist offener. Rastam nimmt uns nach Kindergartenschluss um 12.30 Uhr mit nach Hause. Die Mutter trägt ein Baby im Arm und bittet in die erste Etage eines Mehrfamilienhauses.

Letztes Jahr im August, während des Ramadan, seien sie angekommen, erzählt die Frau. Sie sei im neunten Monat schwanger gewesen. Durch die ständigen Militäroperationen in der Provinz Daraa brach die medizinische Versorgung vollständig zusammen. Sie hätte das Kind dort nicht zur Welt bringen können.

Während des Fastenmonats gab es jeden Tag Kämpfe - wie auch jetzt wieder. Ihr Haus sei schwer zerbombt worden, die Felder von den Regierungstruppen in Brand gesteckt. Landwirtschaft, die ihren Lebensunterhalt sicherte, sei nicht mehr möglich gewesen. Aus Angst vor Bombenangriffen gingen sie kaum noch raus. So habe sich die Familie entschlossen, zu fliehen. Rastam, die fünf Jahre alt ist, habe das Ganze besser verkraftet als Mohammed, ihr vierjähriger Bruder. Er wurde zum Bettnässer und verweigert jeglichen sozialen Kontakt. Während Rastam in den Kindergarten geht, sitzt Mohammed zu Hause in der Ecke. Daniel ermutigt ihn, vielleicht doch einmal vorbeizuschauen. Mohammed nickt stumm.

Lage wird schwieriger

Jordanien hat schon viele syrische Flüchtlinge aufgenommen. Wenn der Zustrom unvermindert anhält, werde man die Millionengrenze am Jahresende übersteigen, schätzt die Regierung. Damit wird die Lage für die Flüchtlinge immer schwieriger. Je mehr Syrer kommen, desto höher steigen die Preise. Teilweise stiegen die Mieten im letzten halben Jahr um das Doppelte an. Auch die Lebensmittelpreise sind im ständigen Aufwärtstrend. Ihr Mann habe zwar einen Tagelöhner-Job als Bauarbeiter gefunden, sagt Rastams Mutter. "Aber wer weiß, wie lange noch?"

Anfang des Jahres sei ein saudischer Scheich in Manshia aufgetaucht und habe gönnerhaft allen syrischen Familien die Miete für zwei Monate bezahlt. Doch ein zweites Mal werde er wohl nicht mehr kommen, meint die Mutter. Wenn ihnen das Geld ausgehe, müssten sie zurück ins nahe gelegene Flüchtlingslager Zaatari (siehe unten), aus dem sie erst vor wenigen Monaten herausgekommen sind. Dort leben rund 120.000 Menschen auf engstem Raum zusammen. Für Rastam und ihre Familie ist dies eine Horrorvision.