Omikron sorgt für neue Zermürbung in der Corona-Krise. Welche Folgen das hat und wie die Politik darauf reagieren kann.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es passierte etwas an diesem Donnerstagabend. In ziemlich vielen Menschen jedenfalls. Gerade erst war einigermaßen verdaut, dass alle wieder in den Lockdown mussten. Entgegen den Erwartungen. Und entgegen den Versprechen der Politik. Da geisterte plötzlich ein neuer Begriff durch die Schlagzeilen, der etwas mit den Menschen machte. Vor allem wegen dem, was rund um ihn in den Artikeln stand. Omikron, hieß der Begriff, auch wenn er in den ersten Artikeln noch als "B.1.1.529" bezeichnet wurde. "Neue Virusvariante", stand in den Sätzen um ihn herum. Aber auch: "Corona-Supervariante", "Anlass zur Sorge", oder "könnte den Impfschutz umgehen".
Mehr hatte es nicht gebraucht. Frustrierend genug, dass Österreich als erstes Land Europas wieder in den Lockdown musste und die halbe Welt darüber berichtete. Trat jetzt auch noch das ein, wovor Virologinnen und Virologen seit Monaten gewarnt hatten, wovon man aber doch irgendwie gehofft hatte, dass es auf magische Weise nie passieren würde? Die Herausbildung einer Virusmutation, die nicht nur deutlich ansteckender ist, sondern auch die Immunantwort des Körpers nach der Impfung umgehen kann. Das Ende des aktuellen Lockdowns war absehbar. Ein monatelanges hartes Zusperren wie im vergangenen Winter schien außer Reichweite. Aber jetzt? Könnte Omikron für ein großes Deja-vu sorgen? "Nicht schon wieder!", dachten sich da viele. Und: Hört das alles denn nie auf?
"Der Gegner verändert sich permanent"
"Wir sehen, dass mit der Omikron-Variante neue Ängste aufkommen", sagt Ulrike Zartler vom Institut für Soziologie der Uni Wien. "Viele unserer Interviewpartnerinnen und -partner werden emotional und sagen beispielsweise: ‚Ich hab geglaubt, das ist jetzt das Ende der Menschheit.‘" Zartlers Team führt eine Langzeitstudie zu den Auswirkungen von Corona auf Familien durch. Seit dem ersten Lockdown werden dazu 98 Eltern qualitativ - in langen Gesprächen bis zu drei Stunden - befragt. Vor allem, dass es eine Impfung gebe, diese aber nun wohl nicht so gut wie erhofft gegen die neue Mutation wirke, sorge aktuell für große Frustration.
Dazu komme klar heraus: Je länger die Pandemie dauere, desto schwieriger werde der Umgang mit den psychosozialen Auswirkungen der Krise, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Und damit in den Familien insgesamt. Die Verstärkung bestehender sozialer Ungleichheiten, die es schon seit Beginn der Pandemie gab, nimmt zudem mit ihrer Dauer zu, so Zartler. Besonders betroffen: Alleinerziehende - neun von zehn sind weiblich - deren Armutsgefährdung sich in der Pandemie erhöht.
Insgesamt sei die "Verzweifung mittlerweile groß", sagt die Soziologin. "Denn mit Omikron kam der Gedanke auf: Was tun wir, wenn diese Krise nie aufhört?" Trotz der langen Dauer sei wenig Gewöhnungseffekt zu beobachten. Er könne kaum eintreten, denn "sobald man versucht hat, sich an etwas zu gewöhnen, kommt schon wieder die nächste Stufe der Pandemie. Der Gegner verändert sich permanent." Zwar seien die Herausforderungen nicht mehr neu, die von der Politik definierten Rahmenbedingungen in jedem der Lockdowns aber sehr unterschiedlich. "Unklare Regelungen sorgen nicht nur für Verwirrung, sondern auch für Unmut", so Zartler. "Und häufig für verstärkte Ängste."
Versprechungen der Politik waren kontraproduktiv
Von gestiegenen Ängsten berichtet auch Sonja Hörmanseder, Leiterin der Krisenhilfe Oberösterreich. Jenem Bundesland, das von der Pandemie besonders stark betroffen war - und auch eine Woche länger im Lockdown bleibt als der Rest des Landes. "Dass man jetzt wieder nicht weiß, wie lange die Krise noch dauert, führt zunehmend zu Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht", sagt Hörmanseder. Zwar gilt die Faustregel: Wer vor der Pandemie schon psychisch belastet war oder gar an einer psychischen Erkrankung litt, tut sich auch mit der Pandemie in der Regel schwerer. Zuletzt hätten sich aber auch verstärkt Menschen bei der Krisenhilfe gemeldet, die vor Corona noch nie angerufen hatten.
Dabei kommen krisenhafte Ereignisse in der Beratungsstelle oft erst mit einer gewissen Verzögerung so richtig an. "Viele Menschen reagieren zuerst einmal mit einer Schockstarre", sagt Hörmanseder. Das könnte auch bei Omikron so sein. Man rechnet daher eher noch mit steigender Nachfrage nach den bestehenden Hilfsangeboten.
Laut Experten dauert eine menschliche Krise im Schnitt rund drei Monate. Die Pandemie heißt aber mittlerweile fast zwei Jahre multiple Dauerkrise. Was macht das mit den Menschen? "Es bedeutet sicher, dass uns die psychischen Erkrankungen und sozialen Belastungen, die jetzt entstehen, noch länger beschäftigen werden", sagt Hörmanseder. Denn je länger eine Belastung anhalte, desto tiefer ihre Spuren.
Klar ist auch: Für den Umgang mit der Pandemie waren die vielen Versprechen der Politik, die wohl eigentlich dazu dienen hätten sollen, die Stimmung der Bevölkerung zu verbessern, nicht hilfreich. Die Rede vom "Licht am Ende des Tunnels" von Ex-Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in einer frühen Phase der Corona-Krise etwa. Sein Satz, wonach die Pandemie für Geimpfte beendet sei. Oder das viel zitierte "Es kommt eine coole Zeit auf uns zu" aus einem Interview. Ähnlich verhielt es sich mit dem notorischen "Die nächsten Wochen werden entscheidend sein" von Ex-Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne), das sich immer und immer wieder auf weitere "entscheidende Wochen" ausweitete. Aufgebaute Erwartungshaltungen, die immer wieder enttäuscht werden: Das macht Menschen mürbe.
Bewusstsein für psychische Gesundheit ist gestiegen
Für die wichtigste Verbesserungsmöglichkeit der Politik hält Soziologin Zartler deshalb auch: Klarheit. Nicht zuletzt über die geltenden Regeln. Da gebe es viel Unsicherheit. Aber auch eine immer geringere Bereitschaft, sich an die Vorschriften zu halten. "Alles, was dem entgegenwirkt, ist gut", sagt die Soziologin. Zudem brauche es finanzielle Unterstützung für ökonomisch schwache Familien. "Es ist wichtig, dass die Wirtschaft unterstützt wird. Aber es gibt auch in Familien bedrohliche Situationen."
Dazu brauche es neben familienfreundlichen Arbeitsbedingungen und funktionierenden Bildungs- und Kinderbetreuungseinrichtungen auch verstärkte psychosoziale Angebote, um den zunehmenden psychischen Erkrankungen entgegenzuwirken. "Das sind Folgekosten, die wir als Gesellschaft noch lange zu tragen haben", sagt Zartler. Jeder Tag früher, an dem es solche Maßnahmen gebe, sei hilfreich, um vor teuren Langzeitfolgen zu schützen. "Sonst gibt es nach einem Ende der virologischen Pandemie eine soziale Pandemie."
Hörmanseder von der oberösterreichischen Krisenhilfe plädiert neben mehr Kassenplätzen für Psychotherapie zudem speziell für einen Ausbau niederschwelliger Unterstützungsangebote - kostenlos, ohne Überweisung oder ärztliches Attest als Voraussetzung. Wenn schnell reagiert werde, könnten hartnäckigere Krisen oft vermieden werden. Und etwas kleines Gutes im großen Schlechten der Pandemie erkennt sie auch: "Das Bewusstsein dafür, wie wichtig psychische Gesundheit ist, ist mit Corona stark gestiegen."
Hilfe in Krisensituationen bietet u. a. die Telefonseelsorge unter der Telefonnummer 142 (täglich 0 - 24 Uhr).