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Rund 5000 Menschen kommen täglich über die serbische Grenze nach Kroatien – es herrscht Chaos.
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Opatovac. Unglaubliche Szenen spielen sich in Opatovac ab. Hier, in einem Auffanglager an der serbisch-kroatischen Grenze, warten tausende Menschen auf die Weiterreise Richtung Norden. In einem Feld an der Landstraße haben sie die Nacht verbracht, wie viele es sind, kann niemand sagen. Manche sprechen von 2500, andere von 4000, die Polizei kann weder die eine noch die andere Zahl bestätigen. Überall liegen Decken, Isomatten und Müll, dazwischen stehen Autos und Zelte von Freiwilligen aus dem In- und Ausland. Sie haben am Dienstag eine provisorische Küche errichtet, seither gibt es auch warme Mahlzeiten: Eintopf, Suppe und heiße Getränke. Ein paar Schweizer mixen sogar Smoothies.
Vor dem Eingang ins eigentliche "Camp" hat sich eine lange Schlange gebildet, hunderte warten in den Morgenstunden auf ihre Registrierung. Journalisten dürfen nicht hinein, doch man sieht die Zelte – Erste Hilfe, Lager, Kleidung – auch vom Feld aus. Geht man den Zaun entlang, gelangt man zum Hintereingang. Drei Busse stehen zur Abfahrt bereit, davor drängeln sich Menschen, die noch hineinwollen, doch es ist kein Platz mehr. "Sit down! Sit here!", brüllt ein kroatischer Polizist eine Flüchtlingsfamilie an und deutet auf eine Heurigenbank. Wie seine Kollegen trägt auch er einen Mundschutz und volle Schutzkleidung.
Beim langen Warten auf die Weiterfahrt kommt es immer wieder zu Ausschreitungen, in regelmäßigen Abständen tönt Lärm und Gebrüll aus dem Lager nach draußen. "Die Polizei macht hier gute Arbeit, sie sind freundlich, aber du musst aufpassen als Journalistin, vor allem, wenn du eine Kamera hast", sagt eine tschechische Freiwillige, die gemeinsam mit anderen eine kleine medizinische Versorgungsstelle am Parkplatz betreut. Auf die Frage, wohin die Flüchtlinge in den Bussen gebracht werden, meint ihr Kollege: "Das weiß niemand. Was hier gerade passiert ist humanitärer Ping-Pong."
Die ganze Nacht über seien Busse gekommen und hätten Flüchtlinge mitgenommen. Bis vor kurzem wurden die Menschen auch an die slowenische Grenze gebracht, aber dies scheint nun vorbei. Von jenen 5000 Menschen, die am Dienstag nach Österreich gelangten, waren mehr als 4500 über die ungarische Grenze gekommen. Scheinbar sind die meisten, die nun in Opatovac warten, zu Fuß aus dem nahegelegenen Grenzort Bapska oder mit Bussen von Tovarnik-Sid ins Lager gekommen. Dieser Grenzübergang zu Serbien wurde am Dienstag wieder geöffnet, nachdem er tagelang geschlossen war.
Das Gespräch mit den Freiwilligen wird unterbrochen, jemand schreit, dann stürzt ein Mann herbei, in den Armen trägt er eine bewusstlose Frau. Viele würden im Gedränge in der Warteschlange oder im Lager zusammenbrechen, erklärt eine Freiwillige. Es seien viele Schwangere dabei, manche würden mit Panikattacken angeliefert, sie habe auch Fälle von Epilepsie behandelt.
Innenminister besucht Lager
Nachdem die Busse abgefahren sind macht sich Verzweiflung breit. Eine Frau weint, Vertreter des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR versuchen, zwischen ihr und der Polizei zu vermitteln. Eine Mitarbeiterin erklärt, dass Frauen und Kinder in der Warteschlange vor der Registrierung von den Männern getrennt werden, damit sie schneller ins Camp kommen – daher auch die dramatischen Szenen am Parkplatz.
Viele Frauen wollen nicht ohne ihre Männer und älteren Söhne in die Busse steigen. Häufig tragen die Männer das gesamte Geld der Familie bei sich – werden sie von den Frauen getrennt, stehen diese völlig mittellos da. Es komme vor, dass Familien die Kinder unter den Erwachsenen aufteilen und behaupten, alleine unterwegs zu sein, damit alle zusammen bleiben können.
Babar Baloch vom UNHCR Ungarn bestätigt, dass die meisten Menschen nach Ungarn gebracht würden – zumindest höre man das. Ein Journalist vom portugiesischen Fernsehen erzählt, er habe vor wenigen Tagen einen Konvoi von zehn Bussen mit dem Auto verfolgt. Im ungarischen Beremend an der Grenze zu Kroatien seien die Menschen fotografiert, registriert und dann in ungarische Busse verladen worden. Von dort sei es weiter nach Nickelsdorf gegangen.
Am späten Vormittag stattet der kroatische Innenminister Ranko Ostojić dem Lager einen Besuch ab. "Es kommen rund 5000 Menschen täglich ins Land", sagt er vor Journalisten – das ginge seit sechs Tagen so. Allein am Mittwochvormittag seien mehr als 2500 Menschen von Bapska aus eingetroffen. 90 Prozent jener, die ins Land einreisen, landeten hier in Opatovac.
Nachdem der Innenminister abgereist ist, hat sich auch die Schlange vor dem Lager aufgelöst. Draußen ist alles ruhig, doch innerhalb des Zauns befinden sich noch 2900 Asylsuchende. Die Lage sei äußerst angespannt, sagt UNHCR-Sprecher Baloch: "Die Menschen sind verzweifelt, das feuert ihre Frustration an." Immer wieder hört man Sprechchöre: "Wir wollen hinaus, wir wollen weiter!" Später eskaliert die Situation, die Polizei setzt Pfefferspray und Schlagstocke gegen die nach vorne drängenden Flüchtlinge ein. Der Lärm ist weit über die Grenzen des Zaunes zu hören.
"Wie lange hält Kroatien das noch aus?"
Auch Baloch vom UNHCR kann nicht sagen, wieso die kroatischen Behörden den Menschen nicht sagen, wohin sie gebracht werden: "Falls sie eine Strategie haben, dann verstehe ich sie nicht."
Immerhin, so der UNHRC-Sprecher, habe Kroatien seine Grenzen nicht geschlossen, sondern nehme nach wie vor Flüchtlinge auf. "Sie versuchen ihr Bestes, aber sie sind dafür nicht ausgerüstet. Es herrscht das Prinzip learning by doing." Man brauche einen ordentlichen Mechanismus, eine Strategie, vor allem, was den Transport betrifft. Die Menschen wüssten nicht einmal, wie lange sie im Lager bleiben müssten.
Tatsächlich sind es bis zu 48 Stunden. "Die große Frage ist, wie lange Kroatien diesen Zustand noch durchhält", sagt Baloch. Seit vergangener Woche seien rund 50.000 Menschen ins Land geströmt. Falls Kroatien seine Grenzen dichtmache, verlagere sich das Problem, denn dann wären die Flüchtlinge in Serbien gestrandet. "Wir brauchen endlich eine ordentliche Strategie", sagt Baloch, "wir müssen aufhören, die Flüchtlinge herumzuschieben. Es braucht ein gesamteuropäisches Asylsystem".
Diesen Artikel hat unser Fotograf Christopher Glanzl in einer Fotoreportage festgehalten.