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Humptata und Hochkultur

Von Werner Schandor

Reflexionen
Seit 2002 in Graz jährlich fest verankert: das Festival "Aufsteirern".Steiermark Tourismus/Gery Wolf

Eine kritische Sichtung steirischer Moden und Mentalitäten.


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"Es gibt kaum eine Stadt, kaum ein Land, in dem so viele Kulturen zusammenkommen", outete sich im März 2015 der Schauspieler Tobias Moretti in einem Interview mit der steirischen "Kleinen Zeitung" als Graz- und Steiermark-Fan: "Vom Salzkammergut über die Obersteiermark bis hin zur Südsteiermark und Graz hat die Steiermark so eine unglaubliche Mentalitätsbandbreite, wie es sonst kaum im deutschen Sprachraum der Fall ist."

Was Moretti vielleicht Recht gibt, ist das Nebeneinander der Mentalitäten, das vom protestantischen Ennstal zum erzkatholischen Mariazell reicht, von der industriell dominierten Mur-Mürz-Furche zum landwirtschaftlich geprägten Süden. Und mitunter kommen im flächenmäßig zweitgrößten Bundesland mit seinen rund 1,2 Millionen Einwohnern harte Gegensätze zur Geltung: Aus der Steiermark stammen der prominenteste lebende Österreicher, Arnold Schwarzenegger, und zwei der schillerndsten Milliardäre des Landes - Frank Stronach und Dietrich Mateschitz -, kontrastiert von zwei der einkommensschwächsten österreichischen Bezirke (Südoststeiermark und Murau).

Die Steirer halten sich für besonders genussfähig und ihren Lebensstil schon für fast mediterran (zumindest im Süden des Landes); gleichzeitig hat das Bundesland mit jährlich rund 230 Selbstmorden die höchste Suizidrate Österreichs. Graz und sein Speckgürtel gehören zu den Regionen mit dem bundesweit höchsten Bevölkerungszuwachs; aber auch die drei Orte mit dem größten Bewohnerschwund liegen in der Steiermark: Eisenerz, Mariazell und Bad Radkersburg. In der Steiermark koexistieren auf engstem Raum Häuslbauer-Wohngrau und Spitzenarchitektur ebenso wie Humptata und avancierte Hochkultur.

Role-Model Gabalier

Wenn es in den letzten zehn Jahren in der Steiermark einen gesellschaftlichen Trend gegeben hat, dann ist es die Trachtifizierung des Landes (analog zum Begriff "Gentrifizierung"). Ein kurzer Blick zurück: Ab 1970 hat sich besonders Graz mit Festivals wie dem "steirischen herbst" oder dem "Musikprotokoll" sowie einer beachtlichen Zahl visionärer Architekten in Sachen zeitgenössischer Kunst und moderner Architektur international einen Namen gemacht. Neuerdings versucht man diese Qualitäten unter dem trendigen Begriff "Design" zu verwerten.

Seit der Jahrtausendwende lässt sich eine Gegenbewegung weg vom Modernen, hin zum bodenständigen Cross-over ausmachen, für das der Steirer Andreas Gabalier ein Role-Model abgibt: In unzähligen Oktoberfest-artigen Veranstaltungen wird die Gelegenheit genutzt, den eigenen Körper in Trachten oder Trachtenverschnitten zu gewanden. Freilich, im Ausseerland hat man schon immer Lederhosen angezogen und wird es vermutlich immer tun. Neu ist, dass sich die Reststeirer ebenfalls zum Feiern zusehends die Trachtenoptik gönnen.

Am Augenfälligsten zeigt sich dieser Trend an der Volksmusikveranstaltung "Aufsteirern", die seit 2002 jährlich Mitte September in Graz Volksmusikgruppen präsentiert und damit an drei Festivaltagen bei schönem Wetter über 130.000 Besucher anlockt. Die Landeshauptstadt verwandelt sich dabei in einen Catwalk für Trachtengewand. Das ist Wud-stouck mit kräftigen Diphtongen.

Sich trachtenmäßig zu kleiden, regionale Biowaren zu kaufen und beim Ausseer Kirtag gleichermaßen wie im südsteirischen Buschenschank die ursprüngliche Gemütlichkeit zu suchen - all das könnte man als besondere Heimatverbundenheit begreifen oder als Gegenbewegung zu einer sich rasant wandelnden Zeit. Zwar sind afrikanische Zeitschriftenverkäufer und osteuropäische Bettler nicht erst seit gestern im Straßenbild von Graz vertreten; desgleichen haben bosnische, türkische und kurdische Muslime hier seit Jahrzehnten eine Heimat gefunden. Aber wie überall in Österreich kommen auch die steirischen Ureinwohner mit diesen Gegebenheiten vielfach schlecht zurande. Am Stammtisch und auf Wahlplakaten kulminiert die Angst vor der Veränderung in Tautologien wie: "Die Heimat muss die Heimat bleiben." Dabei gefährden gar nicht die 144.000 Personen mit Migrationshintergrund, die laut Statistik Austria in der Grünen Mark leben, diese Heimat, sondern die Sesshaften selbst. Und zwar substanziell.

Zwei Drittel der steirischen Landesfläche von über 16.000 km² sind bewaldet, rund ein Drittel ist gebirgig - mit Seehöhen zwischen knapp 1000 Meter an der Grenze zu Slowenien bis zu nicht ganz 3000 Meter im Norden. Während die Berge in der Obersteiermark und am Alpenbogen nordwestlich von Graz für eine dichte Besiedelung in den Tälern sorgen, ist die Landschaft im flacheren Teil hügelig mit eingelagerten Ebenen. Egal, wo man hinfährt - ins Langlaufparadies Ramsau am Dachstein oder zur Erholung in eine der steirischen Thermen im Hügelland -, überall das gleiche Bild: Die Gegend ist einem massiven Zersiedelungsprozess unterworfen.

Zersiedelungsfolgen

Berechnungen der steirischen Agrarbezirksbehörde zufolge werden in der Steiermark täglich rund sechs Hektar Boden "verbraucht", d. h. der landwirtschaftlichen Nutzung entzogen. Die Hälfte davon geht durch Versiegelung unwiederbringlich verloren. Das reicht von Forststraßen und Lifttrassen, die sich in die Berghänge fressen, über Ackerflächen, die für Industrie, Gewerbe und Handel vernichtet werden, bis hin zum Einfamilienhaus-Bauboom, der die ländlichen Gemeinden ausfransen lässt. Die Folgen der Zersiedelung: höhere Infrastrukturausgaben und ein erhöhtes regionales Verkehrsaufkommen insbesondere im motorisierten Individualverkehr, worunter wiederum die Luftgüte leidet - die Achillesferse bei den ansonsten sehr guten Werten in Sachen Lebensqualität in der Steiermark.

"Die gesetzlichen Grundlagen, der Zersiedelung Einhalt zu gebieten, wären da, man müsste sie nur ernsthafter vollziehen", meint Marion Schubert. Die Architektin ist Sachverständige für Bau-, Orts- und Landschaftsgestaltung im Amt der Steiermärkischen Landesregierung. Die bauliche Verschandelung des ländlichen Raumes ist sicher kein rein steirisches Problem. Nur wurde in der Steiermark, wo es vor der Gemeindestrukturreform nicht weniger als 539 Gemeinden gab, noch kleinräumiger gedacht als in anderen Teilen Österreichs. Und die einzelnen Gemeinden erteilten sehr gerne Baubewilligungen für Gewerbeparks und Einkaufszentren, um Abgabenzahler aufs Gemeindegebiet zu locken - selbst dann, wenn man dadurch Gewerbe- oder Einkaufszentren am Acker der Nachbargemeinde in den Ruin trieb.

Mit der Strukturreform, die Landeshauptmann Franz Voves (SP) und sein Vize Hermann Schützenhöfer (VP) gemeinsam durchgezogen haben, ist die Zahl der steirischen Gemeinden auf 287 geschrumpft. Ein harter Schlag für die Ortskaiser. Raumplanungs-Expertin Schubert hofft, dass mit dieser Reform "Räume neu bewertet werden". Ziel des 2014 novellierten steirischen Raumordnungsgesetzes ist es jedenfalls, den Flächenverbrauch zu verringern, der Verödung der Ortskerne entgegenzuwirken und aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.

Was wohl noch ein Weilchen dauern wird. Denn die Steirer sehen sich nicht nur als heimatverbundenes Völkchen, sondern sind auch selbstbewusst bis zur Renitenz. Siehe Voves und Schützenhöfer und ihr getrübtes Verhältnis zur jeweiligen Bundespartei.

Die Sturschädeligkeit der Leute in der Grünen Mark hat schon die Habsburger beschäftigt. Etwa als sich Söldnerführer Andreas Baumkircher im 15. Jahrhundert gemeinsam mit den steirischen Adeligen gegen den Kaiser auflehnte. Vier Jahrhunderte später war es bezeichnenderweise ein in Wien als Verlierer gegen Napo-leon abgestempelter Habsburger, der in der Steiermark sein Glück fand: Erzherzog Johann verwandelte seine Wahlheimat im 19. Jahrhundert vom rückständigen Agrarland in eine sozial relativ verträgliche Industrieregion.

Prinz der Herzen

Durch seine Heirat mit der Bürgerlichen Anna Plochl, für die er auf die Thronfolge verzichtete, mutierte er endgültig zum steirischen Prinzen der Herzen. Noch heute stößt man im ganzen Land auf Johanns Spuren - vom entlegenen Toplitzsee im Ausseerland über sein Denkmal am Grazer Hauptplatz bis hinunter in die 1919 an Slowenien abgetretene Untersteiermark, die nichtsdestotrotz in der offiziellen Landeshymne noch besungen wird. Johanns Gründungen sonder Zahl leben in der Steiermark fort, darunter das steirische Landesmuseum, das 1811 aus einer Schenkung des Habsburgers hervorgegangen war und heute als "Universalmuseum Joanneum" künstlerische, naturkundliche und volkskundliche Sammlungen an mehreren Standorten umfasst.

2015 widmet sich das Universalmuseum Joanneum dem Thema Landschaft. Kunsthaus und Neue Galerie Graz beschäftigen sich mit dem Wandel der ästhetischen Auffassung von Landschaftsbildern; das Naturkundemuseum im Grazer Joanneumsviertel zeigt seit Mitte Mai in der Ausstellung "Landschaft im Wandel" Aufnahmen geologischer Formationen der Alpen. Auch die Zersiedelung der Steiermark wird hier thematisiert. Und das Grazer Volkskundemuseum nimmt unter dem Titel "Steiermark im Blick" die Idyllen des Tourismus unter die Lupe.

Womit wir wieder bei Lederhosen und Dirndlkleidern wären, die aktuell in der Tourismuswerbung stark strapaziert werden. Und beim Widerspruch zwischen idealisierter Heimatliebe und realer Bodenverbundenheit, den Ausstellungskuratorin Eva Kreissl in einem Blog-Beitrag auf den Punkt bringt: "Mich wundert oft die ästhetische Ignoranz der Menschen gegenüber ihrem eigenen Lebensraum, nicht nur in Tourismusgegenden. Auch die ökologische Unaufmerksamkeit bei vielen Entscheidungen zur Umrüstung der Landschaft lässt nicht viel Verantwortungsbewusstsein spüren."

Vielleicht ist es ja gerade diese Ambivalenz, die die Steiermark für Gäste wie Tobias Moretti so anziehend macht.

WernerSchandor, geboren 1967, lebt als Texter, Autor und Hochschullektor in Graz. Er gibt das Feuilletonmagazin "schreibkraft" heraus und hat den Reiseführer "Steirisches Wein- und Hügelland" verfasst.