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Türkische F-16 schossen russischen Kampfjet ab.|Erste Warnungen Ankaras an Moskau gab es bereits im Oktober.|Herber Rückschlag für Anti-IS-Koalition, Putin spricht von "Stich in den Nacken".
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Wien/Ankara/Moskau. Ein kleiner Feuerball, der in eine bewaldete Hügelkette stürzt, dann Sekunden nichts und schließlich eine schwarze Rauchwolke, die enorme Ausmaße annimmt. Das Video, das dem privaten türkischen TV-Sender Haberturk zugespielt wurde, zeigt schließlich zwei Piloten an Fallschirmen, die zu Boden schweben.
Gestern ist an der syrischen Grenze das geschehen, was von Beobachtern schon lange befürchtet worden war: Türkische F-16-Kampfjets haben eine russische Maschine abgeschossen - zu Recht, aus der Sicht Ankaras. Der Flieger habe den türkischen Luftraum verletzt, sei zehn Mal innerhalb von fünf Minuten gewarnt und dann abgeschossen worden. Man habe die eigene territoriale Integrität verteidigt. In Moskau sieht man das anders, der Kampfjet habe sich nicht in türkischem Luftraum befunden, heißt es hier.
Blutige Rache an Piloten?
Es ist kein Geheimnis, dass Ankara die russische Militärintervention in Syrien ein Dorn im Auge ist. Moskau unterstützt offen das Regime Assad, Ankara fordert dessen Sturz. Es ist auch kein Zufall, dass die russische Maschine in ein Gebiet gestürzt ist, das als "Turkmen Mountain" bekannt ist. Ankara fühlt sich mit den dort lebenden Turkmenen verbunden, sie haben sich den syrischen Rebellen, großteils der moderaten FSA, angeschlossen. Ankara sieht sich als Schutzmacht der in Syrien lebenden Turkmenen. Nachdem russische Kampfjets zuletzt deren Dörfer bombardiert haben und es dort zahlreiche Tote gab, ist für Ankara die Grenze des Erträglichen erreicht. Präsident Recep Tayyip Erdogan wollte zuletzt sogar den UN-Sicherheitsrat einschalten. Man befürchte ein Massaker, hieß es.
Entsprechend gnadenlos verfuhren die Turkmenen eigenen Angaben zufolge mit den russischen Piloten: Sie wurden laut einem Brigade-Kommandanten erschossen. Die Türkei dementiert, man sei auf der Suche nach den beiden, heißt es hier. Die Rebellen sollen außerdem einen russischen Hubschrauber, der die Piloten aus der Gefahrenzone bringen wollte, abgeschossen haben. Dabei könnte eine von den USA gelieferte Panzerabwehr-Lenkwaffe vom Typ Tow zum Einsatz gekommen sein.
Die Vorfälle kommen nicht aus heiterem Himmel, Erdogan hat schon Anfang Oktober die russische Führung gewarnt: Moskau solle sich genau überlegen, was es tue, die Beziehungen seien von nachhaltigem Schaden bedroht. Seit Beginn der russischen Militärintervention Ende September klagte die Türkei über Luftraumverletzungen durch Russland. Die Kritik erfolgte zunächst in moderatem Tonfall, schließlich ist die Türkei in hohem Ausmaß von russischen Gaslieferungen abhängig. Doch jetzt wird scharf geschossen.
Russlands Präsident Wladimir Putin hat so reagiert, wie es international erwartet wurde. Es sei dies ein "Messerstich in den Nacken" Russlands, die Tat sei von "Helfeshelfern" von Terroristen ausgeführt worden. Der Vorfall werde ernste Konsequenzen für die Beziehungen zwischen Russland und der Türkei haben. Der türkische Militärattachée in Moskau wurde in das Außenamt einberufen. Der Jet sei von F-16-Kampfflugzeugen abgeschossen worden und etwa vier Kilometer von der Grenze entfernt auf syrischem Gebiet abgestürzt, so Putin. Das russische Flugzeug habe keine Gefahr für die Türkei dargestellt. Der russische Geschäftsträger in Ankara wurde ebenfalls vorgeladen, Erdogan ließ den nationalen Sicherheitsrat zusammentrommeln.
Der Vorfall zeigt mit erschreckender Deutlichkeit, dass die diversen Mächte in Syrien, die eigentlich Frieden schaffen wollen, weit davon entfernt sind, einen gemeinsamen Nenner gefunden zu haben. Die, die Schulter an Schulter vorgehen sollten, geraten jetzt militärisch aneinander.
Nachdem sich in den letzten Wochen russische und US-Kampfjets gefährlich nahe gekommen waren, einigte man sich in Moskau und Washington auf eine bessere Koordinierung der jeweiligen Militärschläge. Denn im Luftraum über Syrien ist es eng geworden. Neben den USA, Russland und der Türkei sind die Golf-Staaten, Frankreich und Israel militärisch tätig. Aus US-amerikanischer Sicht geht es Russland nicht darum, den IS und andere Terroristen zu bekämpfen, sondern Assad zum Sieg und damit den eigenen strategischen Interessen zum Durchbruch zu verhelfen. Russische Kampfjets, so lautet der Vorwurf aus Washington, würden auch gemäßigte Rebellen bombardieren. Auch die Dörfer der Turkmenen, die gegen die syrische Armee zu Felde ziehen.
Es zeigt der Vorfall auch klar, auf wie wenig sich die Mächte bei der letzten Syrien-Konferenz in Wien am 14. November einigen konnten. Noch immer ist unklar, wer in Syrien Terrorist ist und wer nicht.
Ungünstiger Zeitpunkt
Der Abschuss an der türkisch-syrischen Grenze kommt jedenfalls zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Nach den Anschlägen von Paris tat sich ein Zeitfenster auf, bot sich die einmalige Gelegenheit, dass zumindest Frankreich und Russland in Syrien bald einträchtig gegen den IS kämpfen. Immerhin sind beide Staaten Opfer des IS-Terrors geworden.
Jetzt ist Feuer am Dach, die Kluft zwischen Nato und Russland hätte am Dienstag größer nicht sein können. Russlands Außenminister Sergej Lawrow sagte einen für heute geplanten Besuch in der Türkei ab. Im Nato-Hauptquartier wurde in aller Eile auf türkischen Antrag ein "außerordentliches Treffen" einberufen. Ein Nato-Sprecher betonte, es handle sich nicht um Konsultationen nach Artikel 4 des Nordatlantikrates. Nach diesem konsultieren einander die Bündnismitglieder, "wenn nach Auffassung eines von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist". Anders als beim Bündnisfall nach Artikel 5 sind unmittelbare Folge nur Beratungen, eine konkrete Reaktion der Nato ist aber möglich.
Frankreichs Präsident François Hollande war gestern bei US-Präsident Barack Obama, um über die gemeinsame Bekämpfung des IS zu beraten. Das Ergebnis der Gespräche war bei Redaktionsschluss noch nicht bekannt.
Eigentlich sollte Hollande am morgigen Donnerstag zu Kremlchef Putin nach Moskau reisen. Die Gespräche, so sie stattfinden, stehen jetzt unter keinem guten Stern. Hollande wird als Staatschef eines Nato-Landes ganz sicher mit massiven Vorwürfen konfrontiert werden.