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Hundert Jahre Nationalstolz

Von Wolfgang Bahr

Reflexionen

Das 1912 erbaute Gemeindehaus der Stadt Prag ist der Stein gewordene Anspruch der Tschechen auf einen eigenen Staat. - Und der wurde hier auch tatsächlich gegründet.


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Fragt man Touristen aus Österreich, was sie in Prag gesehen haben, so werden nur wenige spontan das Obecní d?m nennen. Das Gemeindehaus liegt zwar strategisch an einem durchaus markanten Ort der Stadt, am nordöstlichen Ende des Grabens (Na p?íkop?); vom dort befindlichen Pulverturm nimmt der Königsweg seinen Anfang, auf dem einst die Herrscher quer durch die Altstadt und über die Karlsbrücke auf den Hradschin zogen, um sich im Veitsdom zum König von Böhmen krönen zu lassen.

Das Gemeindehaus mit der reich verzierten Kuppel, links daneben der Pulverturm.
© Foto: J. Royan/Wikimedia

Doch dominiert das Gebäude den Blick weder vom Graben noch vom Platz der Republik her, unter dem sich eine Metro-Station befindet. Die Architekten, der in ?eský Brod geborene Antonín Balánek und der in Enns zur Welt gekommene Osvald Polívka, lösten das Problem, indem sie den stumpfen Winkel der Hauptfassade mit einer hohen Kuppel und einer reich verzierten Altane versahen. Es lohnt sich, den Eingangsbereich mit seiner reichen Symbolik zu betrachten.

Reiche Symbolik

Am auffälligsten ist das gewaltige Glasmosaik der Huldigung an das slawische Prag von Karel pillar. Die Lünette ist von einem Spruchband umfasst, in dem die Stadt aufgefordert wird, der "bösen Zeit" zu widerstehen, wie sie dies seit Alters her getan habe. Zwei - Demütigung und Auferstehung des tschechischen Volkes darstellende - Figurengruppen von Ladislav aloun, dem Schöpfer des Hus-Denkmals auf dem Altstädter Ring, verleihen der Botschaft Nachdruck. Das Glasmosaik erinnert an jenes über dem alten Hauptportal des Veitsdoms, der im Hintergrund, noch ohne ausgebautes Hauptschiff, abgebildet ist, und die zentrale Figur, die an die Seherin Libussa erinnert, hält in den Händen die Wenzelskrone. Der jugendliche Reiter links von ihr kann als Fürst Wenzel interpretiert werden, und rechts deutet ein Geigenspieler darauf hin, dass das Repräsentationshaus auch ein Musentempel ist.

Unterhalb des Mosaiks sind die Wappen der historischen Prager Städte aufgefädelt. Das Wappen der vereinigten Hauptstadt prangt sowohl oberhalb des Mosaiks als auch am üppigen schmiedeeisernen Geländer der geräumigen Es-trade. Ein ausgeklügeltes Belüftungs- und Befeuchtungssystem, eine Rohrpostanlage, eine elek-trisch traktierte Orgel sowie zwei pompöse Aufzüge machten das Obecní d?m 1912 zu einem der fortschrittlichsten Bauwerke seiner Art in Europa. Nicht weniger als 1800 Lampen wurden bei der Totalrenovierung in den Neunzigerjahren gezählt, viele in Messing gefasst, mit Bleikristall und Spiegeln garniert, viele aber auch in Girlanden zur Schau gestellt, wobei das gespendete Licht nicht nur Wohlstand, sondern auch die den Tschechen heilige Aufklärung symbolisiert.

Das Obecní d?m gleicht mit seinen kunstvollen Ausarbeitungen auch noch der kleinsten Details einer Leistungsschau des böhmischen Handwerks, was sich gut mit der Kunstauffassung der Secession vertrug, und es dokumentiert das wirtschaftliche Selbstbewusstsein einer Nation, die bereit ist, das Ruder selbst in die Hand zu nehmen. Es ist exakt das Gegenteil dessen, was das seit langem verunsicherte und 1918 tatsächlich kollabierte Österreich empfand, das sich als Kleinstaat für nicht lebensfähig hielt und unter den Schutzmantel Deutschlands schlüpfen wollte.

1912 hieß es für die Tschechen aber noch warten. Während das Königreich Ungarn ungebrochen alle Madjaren institutionell umfasste, blieben die Tschechen bis zum Ende der Monarchie auf die drei Länder der Wenzelskrone Böhmen, Mähren und Schlesien aufgeteilt. Und während in Budapest seit 1896 ein monumentales Parlamentsgebäude den Machtanspruch versinnbildlichte, sollte diese Funktion in Prag das Obecní d?m übernehmen.

Auch die Wahl des Bauplatzes am Ort des sogenannten Königshofes, in dem von 1383 bis 1484 die böhmischen Könige residierten, ehe sie auf den Hradschin zurückkehrten, entsprang der Argumentationslinie der tschechischen Nationalbewegung, die sich nicht am Naturrecht orientierte, sondern am böhmischen Staatsrecht, also an der historischen Einheit der Länder der Wenzelskrone. Hinzu kam, dass der Bauplatz in einer damals deutsch geprägten Umgebung lag: Der Graben war der Korso der Deutschen und schräg gegenüber lag das "Deutsche Haus", das nach der Vertreibung der Deutschen zum "Slawischen Haus" und nach der "Samtenen Revolution" 1989 zu einem Büro- und Geschäftszentrum mutieren sollte.

Von daher gesehen ist es stimmig, dass sich die Staatswerdung des Jahres 1918 im Gemeindehaus der Stadt Prag vollzog. Am 6. Jänner verabschiedeten hier die tschechischen Abgeordneten zum österreichischen Reichsrat sowie zu den Landtagen der Länder der Wenzelskrone die "Dreikönigs-Deklaration", die einen selbständigen Staat forderte.

Am 13. April verdichteten sich die Intentionen im ebenfalls hier geleisteten "Nationaleid" und am 28. Oktober 1918 verabschiedete im Gemeindehaus der erweiterte Nationalausschuss das Gründungsgesetz des Tschechoslowakischen Staates; am selben Tag übernahmen hier seine Vertreter von zwei k. u. k. Generälen die Militärgewalt in Prag.

Parlament ohne Haus

Ein eigenes Gebäude für ein tschechisches Parlament ist bis heute nicht errichtet worden - in der Ersten Republik tagte es im Rudolfinum, dem älteren Konzertsaal der Stadt, nach dem Zweiten Weltkrieg im Börsegebäude neben dem Nationalmuseum am oberen Ende des Wenzelsplatzes, und als 1993 die Föderale Versammlung aufgelöst wurde, begnügte sich der Nationalrat der Tschechischen Republik mit den Räumlichkeiten des alten Böhmischen Landtags und der Senat mit dem Palais Waldstein, beides versteckt auf der Kleinseite.

Die ersten direkten Verhandlungen des Bürgerforums unter der Führung von Václav Havel sowie der Föderalen Regierung und der Nationalen Front unter der Führung von Ministerpräsident Ladislav Adamec am 26. November 1989 haben im Obecní d?m stattgefunden.

Von Anfang an umfasste das Gebäude an seinen Seitenfassaden exklusive Geschäfte. Nicht nur ein Verkaufslokal, sondern auch eine reizvolle Dauerausstellung im Gemeindehaus hat heute Blanka Matragi. Die 1953 geborene Tschechin hat als Modedesignerin zunächst im Libanon und dann für die Hautevolée der Golfstaaten eine Bilderbuchkarriere hingelegt, die vorzüglich zum Gemeindehaus als Repräsentation speziell der Bourgeoisie passt. Noch ein paar Stockwerke höher kann man tschechische Münzen und australische Goldnuggets erwerben sowie eine Replik der Wenzelskrone bestaunen.

Im Französischen Restaurant (Francouzská restaurace) im Erdgeschoß ließ sich die feine Gesellschaft durch breite Fenster beim Dinieren beobachten. Heute wird in dem luxuriösen Interieur, das in Filmen wie "Mission impossible" und "Ich habe den englischen König bedient" eine glanzvolle Kulisse abgab, die legendäre tschechische Ente von Jacques Auffrays zubereitet, der auch für die Bankette des Präsidenten der Republik verantwortlich zeichnet. Im ähnlich ausgestatteten Kaffeehaus erinnert auf jedem Tischchen ein gespitzter Bleistift an den einstigen Treffpunkt der Literaten und ein Maria-Theresien-Kaffee sogar an Österreich.

Fürs gewöhnliche Volk gibt es unterhalb des Französischen das türkis verkachelte und folkloristisch möblierte Pilsener Restaurant (Plze?ská restaurace), in dem Reisegruppen etwa aus Japan zu moderateren Preisen verköstigt werden. Die in Schwarz gehaltene American Bar daneben dokumentiert die tschechische Faszination für die Neue Welt.

Nur mit der Führung gelangt man in die sehenswerten Repräsentationsräume, deren Höhepunkt der von Alfons Mucha gestaltete Saal des Primators (Bürgermeisters) darstellt. Ein Blick wird auch in den Smetana-Saal geworfen, in dem alljährlich mit dem Zyklus "Mein Vaterland" das Festival "Prager Frühling" eröffnet wird - 2013 vom Orchestre Philharmonique de Paris. Kürzlich hat hier Anna Netrebko ihr Debüt in Tschechien gegeben, aber anders als der Dvo?ák-Saal im Rudolfinum ist dieser hier kein reiner Konzertsaal, hier finden auch Firmenpräsentationen und Modeschauen, Kongresse und Empfänge statt. Hausorchester ist das Symphonische Orchester der Hauptstadt Prag.

Oberhalb der Repräsentationsräume befinden sich Ausstellungssäle, in denen noch bis zum 31. Jänner eine Ausstellung zum Hundert-Jahr-Jubiläum des Gemeindehauses läuft. In ihr wird umsichtig und multimedial die Baugeschichte des Hauses nachgezeichnet und in den Rahmen des Jahres 1912 hineingestellt. Ein Großteil der Werke, die in den ersten Kunstausstellungen gezeigt wurden, kann hier erneut bewundert werden.

Die in der Ausstellung zu sehenden Entwürfe Alfons Muchas für das Gemeindehaus mögen Kunstfreunde auch zur Besichtigung seines "Slawischen Epos" anregen, das bis Ende September 2013 im Prager Messepalast zu bestaunen ist; die ersten vier der 20 Kolossalgemälde schuf Mucha im Jahr 1912. Eine ideale Ergänzung zum Obecní d?m ist auch die 2009 wiedereröffnete Nationale Gedenkstätte auf dem Prager Vítkov-Hügel, die Stein gewordene Einlösung des im Gemeindehaus gestellten Anspruchs der Tschechen auf den eigenen Staat.

Ein Freizeitzentrum

Nach der heutigen Rolle des Gemeindehauses befragt, sagt Generaldirektor Vlastimil Ježek, es spiele "schon lange - und zum Glück - nicht mehr die Rolle eines ausschließlich tschechischen Tabernakels", sondern es sei zum "Ort der alternativen Freizeitgestaltung der Prager sowie der in- und ausländischen Besucher der tschechischen Metropole geworden". Der frühere Chef des Tschechischen Rundfunks und der Nationalbibliothek steht einer Aktiengesellschaft vor, deren Betreiber und hundertprozentiger Eigentümer die Hauptstadt Prag ist. Sie sei keine Produktionsgesellschaft, sondern finanziere aus den Erträgen lang- und kurzfristiger Vermietungen die Erhaltung des Hauses, und ganz im Sinne der Erbauer fügt Ježek hinzu: "Wir sind hundertprozentig selbständig, ohne irgendeinen Zuschuss aus öffentlichen Geldern."

Wolfgang Bahr, geboren 1950, lebt als Journalist, Übersetzer und Verlagslektor in Wien. Buchveröffentlichungen u.a.: "Graz - unsere Stadt", "Gott in den Alpen".