![Eine Illustration einer Frau mit Kopftuch.](https://media.wienerzeitung.at/f/216981/2500x1875/a87666ab3f/wz_podcast_header_fatima_storer.jpg/m/384x288/filters:quality(50))
Amin Gemayel: Heute beginnt zweiter Unabhängigkeits-Aufstand | Wut auf Syrien schweißt die Libanesen zusammen. | Beirut. Gleich vier runde Buttons mit den Bildern der Ermordeten hat sich Maxim Qoreitem an seinen Pullover geheftet. Das Foto von Libanons Expremierminister Rafik Hariri, der im Februar 2005 getötet wurde, hängt ebenso an seiner Brust wie das des Publizisten Samir Kassir sowie das von Pierre Gemayel, dem vorerst letzten Opfer der Anschlagsserie, die Beirut seit mehr als zwei Jahren erschüttert. Politisch am nächsten aber fühlt sich der 30-jährige, der an diesem Donnerstag wie Hunderttausende zur Trauerfeier für den am Dienstag erschossenen Industrieminister gekommen ist, George Hawi. Im Juni 2005 starb der frühere Chef der Kommunistischen Partei bei einem Autobombenattentat.
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Ruf nach Unabhängigkeit
An diesem Donnerstag jedoch gibt es für den Kommunisten Qoreitem weder Links noch Rechts. "Was wir wollen, sind Frieden und die Unabhängigkeit des Libanon". Frieden und Unabhängigkeit, das ist so etwas wie die einigende Botschaft, die von der Trauerfeier auch nach dem Wunsch des Vaters des Getöteten, Amin Gemayel, ausgehen sollte. "Heute beginnt ein zweiter Unabhängigkeits-Aufstand", wird der libanesische Ex-Präsident an diesem sonnigen Novembertag sagen. Immer neue Schlangen von Menschen drängen sich an Qoreitem und seiner Begleiterin vorbei, die um kurz nach eins einen Platz vis-à-vis zur St. Georgs-Kathedrale im nach dem Bürgerkrieg wieder aufgebauten Zentrum von Beirut gefunden haben.
Tumulte vor der St. Georgs-Kathedrale
Die Straße vor dem Gotteshaus ist von Sicherheitszäunen abgesperrt, überall tummeln sich bewaffnete Polizisten der Internal Security Forces (ISF). Als der Sarg Gemayels auf den Schultern seiner Anhänger durch das Tor der Kathedrale getragen wird, kommt es zu Tumulten, die Uniformierten am Eingang können all die Menschen, die die Treppe hinaufdrängen, kaum abhalten. Doch schließlich verschwindet der Sarg hinter der hohen Pforte, umhüllt von weißem Stoff mit der stilisierten grünen Zeder der rechtsgerichteten Falangisten-Partei, die von Pierres Großvater in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gegründet wurde. Mannsgroße Bilder des Hoffnungsträgers der traditionsreichen libanesischen Familie ragen aus der Menge hervor.
"Pierre lebt in uns!", rufen seine Verehrer, und immer wieder: "Syrien, Syrien, hahaha". Erinnerungen werden wach an den 14. März vergangenen Jahres, als die weiter zum Märtyrerplatz führende Amir Bashir-Straße schon einmal von Menschen verstopft war. Vier Wochen nach dem Mord an Hariri hatte sich hier mehr als eine Million Demonstranten versammelt, bis zum Rückzug der syrischen Armee aus dem Libanon sollte es nur noch fünf Wochen dauern.
Die Wut auf das syrische Regime von Präsident Bashar al-Assad, das nach Ermittlungen des bis Ende vergangenen Jahres amtierenden früheren deutschen UN-Sondermittlers Detlev Mehlis, in den Mord auf Hariri verstrickt sein soll, schweißt die Demonstranten zusammen. Assads hochrangigster Verbündeter im Libanon, Präsident Emile Lahoud, fehlt bei der Trauerfeier ebenso wie der Generalsekretär der schiitischen Hisbollah, Hassan Nasrallah. Vor knapp zwei Wochen verließen ihre Minister das Kabinett von Premierminister Fuad Siniora - unmittelbar vor der Entscheidung über die Einrichtung eines internationalen Tribunals zur Aufklärung des Hariri-Mordes.
Angst der Minister und der Bürger
Aus Angst vor weiteren Morden übernachten bereits einige Minister im Regierungssitz Sinioras. Trotz Tausender Polizisten und Soldaten auf den Straßen der Hauptstadt, das hat der Mord an Gemayel gezeigt, ist Beirut nicht mehr sicher.
Angst hat auch die 21-jährige Zena Khouri, die gegen Ende der Demonstration mit ein paar Freundinnen vom Märtyrerplatz in Richtung der Uferpromenade Corniche läuft. "Es ist doch kein Zufall, dass fast nur Christen den Morden zum Opfer fielen."