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Hungere dich hoch

Von Marina Delcheva

Wirtschaft

Die "Watchlist-Praktikum" beklagt Ausbeutung und Unterentlohnung.


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Wien. "Jobeinstieg? Zum Kotzen! Das kann ich auf jeden Fall sagen", sagt Marlene M. (Name geändert, Anm.). Die junge Akademikerin hat eine beachtliche Praktikumslaufbahn hinter sich. Von ihren drei Praktika hat sie eines zwei Monate lang unbezahlt gemacht, im Europäischen Parlament in Brüssel. "Für eine deutsche EVP-Abgeordnete." Den Namen möchte Marlene M. nicht nennen, weil es sich bei der Jobsuche nicht gut macht, ehemalige Arbeitgeber anzupatzen. "Ich musste mich selbst versichern, mein WG-Zimmer hat 600 Euro gekostet und zum Leben braucht man auch etwas", erzählt sie. "Ich habe monatlich von meinem Sparbuch abgehoben."

Geringe Entlohnung, hohe Anforderungen und wenig Chancen auf Übernahme - so in etwa fasst die Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA-djp) die Situation der Generation Praktikum zusammen. Im Juli hat die Gewerkschaft in Zusammenarbeit mit dem Sozialministerium die Homepage "watchlist-praktikum.at" ins Leben gerufen. Dort kann man anonym Missstände oder Unterentlohnung melden. Die bisherige Bilanz: 100 Fälle aus verschiedenen Branchen wurden registriert. In vier von zehn Fällen wurde das Praktikum gar nicht entlohnt. Etwa zwei Drittel hat die Gewerkschaft als reguläre Beschäftigung eingestuft, die gemäß den geltenden Kollektivverträgen entlohnt werden müsste. In 60 Fällen prüft nun die Krankenkasse anonym, ob der Arbeitgeber nachträglich anstellen muss.

Keine Einzelfälle

"Es ist nicht mehr legitim zu behaupten, es sind einzelne schwarze Schafe. Das sind systematische Probleme", sagt Veronika Kronberger, Vorsitzende der Plattform. Unter den gemeldeten Fällen sind Extreme wie ein Gastgewerbe-Praktikant, der 22 Tage ohne freien Tag und bis zu 16 Stunden täglich arbeiten musste, unbezahlte Hilfstätigkeiten und Lagerarbeit - im Gegenzug wurde eine Lehrstelle versprochen - oder auch ganz normale Angestelltenverhältnisse, die mit wenigen hundert Euro entlohnt wurden.

"Ich stelle nicht in Abrede, dass es Missstände gibt. Aber es sind nur 100 Fälle. In 99 Prozent funktioniert das System", widerspricht Rolf Gleißner von der Wirtschaftskammer. Viele Unternehmen bekämen zahlreiche Praktikumsanfragen. Hinzu kommt, dass vor allem kleine Betriebe wegen der hohen Lohnnebenkosten nicht die finanziellen Mittel hätten, Praktikanten besser zu bezahlen. Dass nur 100 Fälle gemeldet wurden, erklärt die Gewerkschaft damit, dass junge Menschen oft Hemmungen haben, ihre Arbeitgeber anzuzeigen und fürchten, dass sich das in der Branche herumspricht. Die Statistik Austria geht davon aus, dass circa 13 Prozent der Hochschul-Absolventen eines Jahrgangs in die Generation Praktikum rutschen, also Schwierigkeiten haben, einen fixen Job zu finden. Zudem seien 25 Prozent der angebotenen Praktika unbezahlt. Die Studierenden-Sozialerhebung des Instituts für Höhere Studien zeigt außerdem: Während die Hälfte der Studenten aus höheren Schichten ein Praktikum macht, absolvieren nur 38 Prozent der Studenten aus niedrigen sozialen Schichten Praktika. Der Grund: kein Geld.

Zu arm für die Karriere

Azra ist 22 und studiert Internationale Entwicklung. Sie hat vergangenen Sommer bei einer internationalen Menschenrechtsorganisation ein prestigeträchtiges Praktikum bekommen. Diese möchte sie nicht beim Namen nennen. Der Haken: zwei Monate unbezahlt arbeiten. "Das kann ich mir nicht leisten. Meine Mama ist Alleinerzieherin, ich habe Geschwister und ich muss mein eigenes Geld verdienen", erzählt sie. Statt bei einer namhaften NGO zu arbeiten, hat sie im Sommer in Favoriten gekellnert.

"Es ist eine Pattsituation. Du brauchst die Referenz. Vor Brüssel hat mich nie irgendwer zu Vorstellungsgesprächen eingeladen", sagt Marlene M. Ein Volontariat oder ein Praktikum ist aber längst keine Jobgarantie mehr. Etwa 50 Prozent der Berufstätigen unter 30 befinden sich in einem befristeten oder freien Dienstverhältnis.

Probleme in allen Branchen

Missstände ortet die Gewerkschaft in allen Branchen. Nicht nur bei den üblichen Verdächtigen wie Medien, Kreativ- und Sozialberufen, auch im Handel und sogar im öffentlichen Dienst komme das immer öfter vor. Karl Proyer, stellvertretender Bundesgeschäftsführer der GPA-djp, nennt als Beispiel eine Stellenausschreibung des Österreichischen Gemeindebunds, der ein Praktikum in seiner Pressestelle - Erfahrungen erforderlich - ausgeschrieben hat: zwei Monate, 30 Stunden die Woche, 300 Euro monatlich.

"Wir haben nichts gegen Praktika", so Proyer, wenn diese tatsächlich der Weiterbildung dienen und gerecht entlohnt würden. Als Richtwert gelte etwa die, je nach Branche, im Kollektivvertrag geregelte Lehrlingsentschädigung. Die Gewerkschaft möchte - nachdem das sehr lange kein Thema war - nun mit der neuen Plattform Unternehmen genauer auf die Finger schauen und ruft junge Arbeitnehmer auf, Missstände zu melden. Sie würden nachträglich angestellt und bekämen in manchen Fällen zusätzlich Geld. Die Gebietskrankenkasse profitiert insofern von der Zusammenarbeit, als Arbeitgeber im Fall von Verstößen Beiträge nachzahlen müssen. Der Wille junger Praktikanten, gegen Ausbeutung aufzubegehren ist aber in der Regel kleiner als die Hoffnung auf eine Fixanstellung.