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Hungern im Schlaraffenland

Von Günter Hoffmann

Politik

Argentinien zählte einst zu den zehn reichsten Nationen der Welt. Heute hat sich die Situation verkehrt. Das ehemalige Vorzeigeland des Neoliberalismus erlebt die schwerste Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Angesichts der Kapitalflucht hat die Regierung alle Konten eingefroren, um den Zusammenbruch des Bankensystems zu verhindern. Das Land ist zahlungsunfähig.


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Der Peso hat im letzten Halbjahr fast die Hälfte seines Wertes verloren. In den Supermärkten explodieren die Preise, während die Löhne auf der Stelle treten. Die Arbeitslosigkeit hat mit 25 Prozent Rekordniveau erreicht und täglich kommen Tausende hinzu. Obwohl in Argentinien genügend Weizen, Gemüse, Fleisch, Milch und andere Grundnahrungsmittel produziert werden, um fast das Zehnfache der eigenen Bevölkerung zu ernähren, leben heute bereits mehr als die Hälfte der 37 Millionen Einwohner unterhalb der Armutsgrenze. Es fehlt das Geld, um die heimischen Produkte zu kaufen.

Blühender Tauschhandel

Schon früh am Morgen strömen die Menschen schwer bepackt mit großen Taschen, Kartons, Säcken und Plastikbeuteln auf eine leerstehende Fabrikhalle im Zentrum von Buenos Aires zu. "La Estacion" ist der größte überdachte Tauschmarkt in der Hauptstadt. Von rund dreieinhalbtausend Menschen wird am nächsten Tag wieder die Tagespresse sprechen, die hier zweimal in der Woche zusammen kommen.

In drei Geschossen, auf endlosen Tischreihen aufgetürmt, wird hier alles getauscht, was die einen entbehren können und in Geld umsetzen wollen - und was die anderen dringend benötigen. Vor allem Nahrungsmittel sind gefragt: Mehl, Zucker, Reis, Eier, Brot, frisches Obst und Gemüse. Gefolgt von Kinderkleidung, Medikamenten, Bettwäsche, Haushaltsgegenstände bis hin zum Bürobedarf. Aber nicht gegen Pesos oder Dollars werden hier die Waren getauscht, sondern gegen "Créditos", so heißt die neue, alternative Währung.

"La Estacion" ist nur einer der über 7000 Tauschmärkte in Argentinien, deren Adressen und Öffnungszeiten in endlosen Spalten täglich in den Zeitungen veröffentlicht werden. Aber nicht nur auf denTauschmärkten, auf freien Plätzen, in Kirchen oder leerstehenden Fabrikgebäuden ist der Crédito als Währung akzeptiert. Taxifahrer nehmen ihn ebenso an, wie Handwerker, niedergelassene Ärzte, Privatkliniken oder Restaurant- und Hotelketten.

Inzwischen wird selbst der Kauf von Grundstücken und Häusern auf Crédito-Basis von den Notaren beglaubigt. In der 13.000-Seelen-Gemeinde Calchaqui im armen Norden des Landes können mit den Kreditscheinen sogar die Steuern bezahlt werden.

Rund vier Millionen Argentinier überleben dank der neuen Währung. Inzwischen ist der Tauschhandel zu einem bedeutenden Wirtschaftszweig geworden. Auf rund eine Milliarde Dollar wird der Tausch-Umsatz für das vergangene Jahr geschätzt. Selbst auf Plakaten in der Untergrundbahn in Buenos Aires wird Werbung für den Tauschhandel gemacht, der 2001 einen Zuwachs von rund 80 Prozent verzeichnete.

"Club del Trueque"

Im Frühjahr 1995 steht die argentinische Wirtschaft unter dem Schock der in Mexiko ausgelösten "Tequila"-Krise; die Arbeitslosigkeit klettert erstmals auf nahezu 20 Prozent. Drei Wissenschaftler, ein Chemiker, ein Psychologe und ein Museumsverwalter, alle arbeitslos, schließen sich in Bernal, einem Vorort von Buenos Aires zusammen. Sie gründen den ersten Tauschclub Argentiniens, auf spanisch "Club del Trueque". "Mit Pesos hätten wir uns alles leisten können. Aber da niemand von uns Geld in der Tasche hatte, haben wir einfach angefangen das Geld selber zu drucken", erzählt Rubén Ravera, einer der drei Initiatoren. "Und der Tauschhandel schlug ein und funktionierte, obwohl diese Créditos (Kredit) durch gar nichts gedeckt waren, außer dem Vertrauen und dem Glauben der Klubmitglieder," so Ravera.

Wer Mitglied im Tauschclub werden will, muss dies schriftlich beantragen und die "Prinzipien des globalen Tauschnetzes" anerkennen. Sie bedeuten: "Jeder kann irgend etwas, und jeder vermag etwas einem Angebot entgegenzusetzen. Wir glauben, dass es möglich ist, auf dem Weg der gegenseitigen Hilfe die kalte Konkurrenz, den Profit und die Spekulation zu überwinden," so die Statuten.

Jedes neue Mitglied erhält 50 selbst gedruckte Créditos. Den Wert des Créditos legten die Initiatoren mit 1 Crédito = 1 Peso fest.

Komplementäre Wirtschaft

Während die Argentinier das Vertrauen in ihre Regierung und in ihre Währung verloren haben, wächst das Vertrauen in die selbst gedruckten Papiere der Tauschklubs. Was 1995 mit dem Verkauf von Flohmarktartikeln in der leerstehenden Textilfabrik "La Bernalesa" begann, hat sich heute zu einem landesweiten "Globalen Tauschnetz" entwickelt. Die örtlichen Tauschclubs werden über sogenannte Knoten lokal verwaltet und geleitet. Mit fünfzehnhundert Knoten ist das "Globale Tauschnetz" das größte soziale Netz des Landes und reicht von La Quiaca an der bolivianischen Grenze bis hinunter nach Ushuaia, am südlichen Zipfel Feuerlands.

"Wir wissen, dass die Tauschmärkte nur solange existieren, wie Waren produziert werden, die man dort eintauschen kann", so Graciela Draguicevitch, Direktorin des Tauschclubs "La Estacion". "Deshalb wollen wir Einfluss auf die reale Wirtschaft nehmen, auf die landwirtschaftliche und auf die industrielle Produktion. Gleichzeitig wollen wir Produzenten und Konsumenten zusammenführen, ohne Zwischenhändler, ohne multinationale Konzerne."

Die örtlichen Knoten haben inzwischen Sozialwerke eingerichtet. Diese kaufen tonnenweise Mehl und Reis bei landwirtschaftlichen Kooperativen ein. Sie bezahlen die Bauern mit Pesos, denn mit Créditos können sie in ihrem Dorf oft wenig anfangen. Die Pesos stammen aus den geringen Eintrittsgebühren, die das Sozialwerk von Mitgliedern des Tauschklubs verlangt. In Buenos Aires wird das Mehl und der Reis abgepackt und etikettiert und gelangt um die Hälfte billiger als in den Supermärkten zum Verbraucher. Viele Mitglieder decken sich hier nicht nur für den täglichen Verbrauch ein, sondern kaufen die Grundnahrungsmittel, für ihre kleine Pizza-, Tortillas-, Empanadas- oder Kuchenproduktion. Mit dem Verkauf dieser Waren können sie wieder einen Teil ihres Lebensbedarfs decken.

Da ein immer größerer Teil der Bevölkerung verarmt und die Sozialwerke die medizinische Betreuung und die lebenswichtigen Arzneien nicht mehr bezahlen können, haben sie damit begonnen, Gesundheitszentren aufzubauen. Allgemeinmediziner, Kinder- oder Zahnärzte, die wie viele Kollegen ihre Praxen schließen mussten, untersuchen und behandeln hier die Patienten gegen Créditos. In den angeschlossenen Apotheken können die Medikamente ebenfalls mit der neuen Währung bezahlt werden. Es sind Generikas, nachgemachte Produkte, die argentinische oder brasilianische Labors herstellen. Der Tauschklub ist aber kein rechtsfreier Raum. Die Medikamente werden, wie die Labors und die Ärzte, von Verbraucherorganisationen und dem Gesundheitsministerium kontrolliert. "So verhindern wir die astronomischen Gewinnspannen bei den Arzneien", berichtet Pedro Cazes, der auch die pharmazeutische Abteilung des Posadas-Krankenhauses leitet.

Mit der Ausbreitung des Netzes vollzieht sich eine Verdichtung der Organisation. Getauscht werden heute auch zahlreiche Dienstleistungen. In einem Katalog sind Vertreter aller möglichen Berufskategorien vom Schreiner und Spengler bis zur Schneiderin, vom Architekten bis zum Rechtsanwalt aufgelistet, die ihren Service gegen Créditos anbieten. Gewisse Mischformen von Bar- und Ersatzgeld sind dabei erlaubt und geläufig: zum Beispiel das Material in Pesos, die Arbeitsleistung in Créditos.

Die neue Zentralbank

Schätzungsweise 150 Millionen Créditos sind heute im Umlauf. Täglich geben die Organisatoren weitere 250 000 Tickets an neue Mitglieder aus. Ein paralleles Währungssystem ist entstanden, auf das die staatliche Zentralbank keinen Einfluss hat. Die Funktion einer "Zentralbank", die dieses Ersatzgeld druckt und in Umlauf setzt, haben die Gründer des "Globalen Netzes von Tauschhandelsvereinen" (CCDEV= Community Exchange Systems in the Global South) inne. Mit der Ausdehnung der Tauschwirtschaft wächst allerdings ein Problem, dass auch der Peso und der Dollar kennen: Es tauchen immer mehr gefälschte Créditos auf. "Wir haben keine Angst vor diesen Fälschungen," sagt Rubén Ravera. "Wer Créditos nachmachen will, fördert am Ende doch nur den Handel."

Ein Angebot der Zentralbank, fälschungssichere Tauschscheine in der Staatsdruckerei zu drucken, haben die Verantwortlichen abgelehnt. Sie befürchten, dass sich die Banker und damit auch der Internationale Währungsfonds einmischen könnten. Allerdings haben sie inzwischen selbst damit begonnen, neue, fälschungssichere Scheine mit Nummern und Wasserzeichen zu drucken. Die Organisatoren rechnen damit, dass bis Ende 2002 rund 10 Millionen Argentinier auf die neue Währung angewiesen sein werden ...

Vor kurzem hat die Regierung vorgeschlagen, in Zukunft Arbeitslosen und den im Beschäftigungsprogramm Tätigen "Créditos" und nicht Pesos auszuzahlen. Dies haben die Tauschklubs rundweg abgelehnt, nur Prämien und Einmalzahlungen dürften notfalls mit ihren Tickets entrichtet werden. Die Behörden sehen es mit Wohlwollen, dass zwei ökonomische Kreisläufe entstehen, der Kreislauf der realen Wirtschaft, in dem die Zentralbank Geld ausgibt, in dem Steuern erhoben werden und Sozialversicherungen existieren. Und der Kreislauf der informellen Wirtschaft, mit privaten Tausch-Tickets, wo wenig oder gar nicht besteuert wird, aber vom Staat auch nichts erwartet wird: keine Gesundheitsfürsorge, keine Renten, keine Förderung von sozial Benachteiligten.